MUSIK IN ALTEN STÄDTEN UND RESIDENZEN


1 LP - C 91 111 - (p) 1962
1 LP - 1 C 037-45 576 - (p) 1962
1 CD - 9 28336 2 - (p) & (c) 2013

LEIPZIG - Das Collegium musicum der Universität




Johann Rosenmüller (1619-1684) Sinfonia undecima aus "Sonate da camera", 1670 - in DDT Bd. 18, herausgegeben von Karl Nef, Leipzig 1904
8' 19"
A1

- Grave · Adagio · Adagio · Allegro · Adagio · Adagio · Alemanda · Correnta · Ballo · Sarabanda



Werner Neuhaus, Helga Thoene, Violinen | Heinz Jopen, Emil Seiler, Violen | Horst Hedler, Tenor-Gambe


Alfred Lessing, Kontrabaß-Gambe | Eugen Müller-Dombois, Renaissance-Laute | Walter Thoene, Spinett


Adam Krieger (1634-1666) Aria "Hör meine Schöne" aus "Neue Arien" (Dresden 1676), das vierte Zehn - in DDT Bd. 19, herausgegeben von Alfred Heuss, Leipzig 1905 2' 27" A2

RIAS-Kammerchor | Werner Neuhaus, Helga Thoene, Violinen | Heinz Jopen, Emil Seiler, Violen


Horst Hedler, Tenor-Gambe | Alfred Lessing, Kontrabaß-Gambe | Walter Thoene, Spinett | Günther Arndt, Leitung


Adam Krieger Aria "Komm Galathea, komm maine Herze" aus "Neue Arien", das dritte Zehn - in DDT Bd. 19
3' 03" A3

Maria Frisenhausen, Sopran | Werner Neuhaus, Helga Thoene, Violinen | Heinz Jopen, Emil Seiler, Violen


Horst Hedler, Tenor-Gambe | Alfred Lessing, Kontrabaß-Gambe | Walter Thoene, Spinet

Adam Krieger Aria "Amanda, darf man dich wohl küssen" aus dem Liederbuch des Studenten Clodius - in DDT Bd. 19, anhang 2' 07" A4

Fritz Wunderlich, Tenor | Gerhard Tucholski, Renaissance-Laute | Gerhard Naumann, Tenor-Gambe


Adam Krieger Aria "Ich habe mir die Welt so groß gemachet" aus "Neue arien", das erste Zehn - in DDT Bd. 19 3' 16" A5

Friederike Sailer, Sopran | Werner Jahns, Hans Koth, Violinen | Walter Schuster, Artur Kröber, violen


Karl Brehm, Violoncello | Josef Ulsamer, Kontrabaß-Gambe | Willy Spilling, Cembalo


Johann Christoph Pezel (1639-1694) Sonata Nr. 39 (Adagio) - aus "Hora decima" (Leipzig 1670) - in DDT Bd. 63 (Nr. XII)
1' 28" A6

Otto Steinkopf, Albrecht Renz, Zinken | Helmut Schmitt, Alt-Posaune | Harry Barteld, Tenor-Posaune | Kurt Federowitz, Baß-Posaune

Adam Krieger Aria "Ich will es nicht achten, ich will es nicht tun" aus "Neue arien", das dritte Zehn - in DDT Bd. 19
2' 01" A7

Claus Ocker, Bariton | Werner Neuhaus, Helga Thoene, Violinen | Heinz Jopen, Emil Seiler, Violen


Horst Hedler, Tenor-Gambe | Alfred Lessing, Kontrabaß-Gambe | Walter Thoene, Spinet

Johann Theile (1646-1724) Canzonett à 4 "Was acht' ich deine Gunst?" aus "Weltliche arien und Canzonetten" (Leipzig 1667)
1' 41" A8

Maria Friesenhausen, Sopran | Emmy Lisken, Alt | Theo Altmeyer, Tenor | Claus Ocker, Bariton



Werner Neuhaus, Helga Thoene, Violinen | Horst Hedler, Tenor-Gambe | Alfred Lessing, Kontrabaß-Gambe | Walter Thoene, Spinet

Johann Theile Aria "Durchkläre dich, du Silbernacht" aus "Weltliche Arien und Canzonetten" (Leipzig 1667) 2' 47" B1

Emmy Lisken, Alt | Werner Neuhaus, Helga Thoene, Violinen | Heinz Jopen, Emil Seiler, Violen | alfred Lessing, Kontrabaß-Gambe

Adam Krieger Aria "Wieviel Stunden hab' ich wohl gezählet" aus "Neue Arien", das vierte Zehn - DDT Bd. 19 2' 22" B2

Theo Altmeyer, Tenor | Werner Neuhaus, Helga Thoene, Violinen | Heinz Jopen, Emil Seiler, Violen


Horst Hedler, Tenor-Gambe | Alfred Lessing, Kontrabaß-Gambe | Walter Thoene, Spinet

Sebastian Knüpfer (1633-1676) Canzonett à 4 "O heller Glantz, du güldnes Licht" aus "Lustige Madrigalen und Canzonetten" (1663) vgl. "Corydon", Bd. 2 2' 13" B3

Friederike Sailer, Sopran | Emmy Lisken, Alt | Werner Jahns, Hans Köth, Violinen


Karl Brehm, Violoncello | Josef Ulsamer, Kontrabaß-Gambe | Willy Spilling, Cembalo


Johann Hermann Schein (1586-1630) Zwei A-capella-Sätze


- "Der kühle Maien" aus "Musica boscareccia oder Waldliederlein, auff Italian-Villanellische Invention" (Leipzig 1621) 1' 58" B4

. "Viel schöne Blümelein" aus "Musica boscareccia oder Waldliederlein, auff Italian-Villanellische Invention,anderer Teil" (Leipzig 1626) 1' 08" B5




Johann Kuhnau (1660-1722) Partie III E-dur aus "Neue Klavier-Übung" Leipzig 1689 - in DDT Bd. 4, heraugegeben von Karl Päsler. Leipzig 1901
7' 35"
B6

- Praeludium · Allemande · Courante · Sarabande · Menuet



Walter Theone spielt auf einem Jacob Kirkman-Cembalo

Johann Christoph Pezel Sonata Nr. 1 aus "Hora decima" (Leipzig 1670) - in DDT Bd. 63 (Nr. I) 2' 38" B7

Otto Steinkopf, Albrecht Renz, Zinken | Helmut Schmitt, Alt-Posaune | Harry Barteld, Tenor-Posaune | Kurt Federowitz, Baß-Posaune

Johann Schelle (1648-1701) Kantate "Vom Himmel kam der Engel Schar" (Leipzig o. J.) - in DDT Bd 58/59
8' 07" B8

RIAS-Kammerchor | Walter Holy, Helmut Finke, Clarinen | Günther Scholz, Pauken | Otto Steinkopf, Albrecht Renz, Zinken


Helmut Schmitt, Wilhelm Wendlandt, Posaunen | Wolfgang Meyer, Positiv | Berliner Symphoniker | Günther Arnst, Leitung





 
Interpreters (see above).
 






Luogo e data di registrazione
- Berlin-Zehlendorf, Gemeindehaus (Germania) - gennaio 1962 (1-5,7,8,11-14)
- Berlin-Grunewald (Germania) - febbraio 1962 (6,10,23,24)
- Institut für Musikforschung Berlin (Germania) - novembre 1961 (18-22)
- Nürnberg (Germania) - gennaio 1962 (9,15)
- Windsbach (Germania) - marzo 1962 (16,17)


Registrazione: live / studio
studio

Producer / Engineer
Fritz Ganss / Horst Lindner

Prima Edizione LP
Columbia - C 91 111 - (1 LP) - durata 53' 25" - (p) 1962 - Analogico

Altre edizioni LP

EMI Electrola - 1 C 037-45 576 - (1 LP) - durata 53' 25" - (p) 1962 - Analogico

Edizioni CD
EMI Music - 9 28336 2 - (1 CD) - durata 53' 25" - (p) & (c) 2013 - ADD

Cover
Allegorie auf Leipzig auf Stätte der Gelerhrsamkeit Kupferstich, frühes 17. Jahrhundert - Privatsammlung Leverkusen














Collegium musicum und Thomaskantorat 1620-1700
Unter „Collegium musicum“ verstand man im 17. Jahrhundert eine Vereinigung von Laien zur Pflege der Musik; mancherorts waren auch Berufsmusiker darin tätig. Die Art der Musikpflege war örtlich verschieden; man musizierte entweder nur unter sich zur eigenen Freude oder vor einem größeren Publikum, wodurch in manchen Städten, so in Frankfurt am Main und Leipzig, das Konzertwesen vorbereitet wurde. Für Leipzig läßt sich ein direkter Zusammenhang zwischen den Collegia musica und den späteren Gewandhauskonzerten über das bürgerliche Liebhaberkonzert feststellen. Eine dritte Art der Musikpflege war die gottesdienstliche Musik. Die häufige Personalunion der Leiter beider voneinander unabhängiger Institutionen war für das künstlerische Resultat sehr förderlich. Obwohl ihre Mitglieder fast ausschließlich Studenten waren, erhielten die Leipziger Collegia musica - es gab zu Bachs Zeiten deren sogar zwei - von der Universität keine Subventionen. Dagegen scheinen reiche Bürger der Stadt, in deren Häusern und Gärten Glückwunschmusiken, Ständchen und Serenaden „vocaliter et instrumentaliter“ musiziert wurden, für kräftige finanzielle Unterstützung gesorgt zu haben. Später, im 18, Jahrhundert, ergab sich eine finanziell gewiß nicht ungünstige Situation dadurch, daß man nicht nur in Patrizierhäusern, sondern auch in Kaffeehäusern musizierte, wodurch man dem öffentlichen Konzert schon sehr nahe kam.
Die Anfänge des Leipziger Collegium musicum liegen völlig im Dunkel. Man darf annehmen, daß es schon zur Zeit von Sethus Calvisius (Thomaskantor von 1594-1615) studentische Musikvereinigungen gab. Sein Nachfolger im Thomaskantorat war Johann Hermann Schein. 1586 in Grünhain im Erzgebirge geboren, wurde er mit 30 Jahren Thomaskantor und schuf eine Fülle von Kirchenmusik, die in ihrer Bedeutung und Schönheit erst in unserer Zeit recht gewürdigt wird. Sieht man von Bach als Komponist weltlicher Kantaten ab, dann dürfte es wohl keinen Thomaskantor in der Barockzeit gegeben haben, der sich wie Schein so intensiv mit der weltlichen Musik befaßt hat, und zwar gerade mit der Art von Musik, die für das studentische Musizieren geeignet war: Tanzsuiten für Streicher und Bläser (in freierWahl) und Lieder für ein bis fünf Stimmen, von denen die Oberstimmen (Sopran und Alt) falsettiert wurden. Da erschienen nach einem Frühwerk, dem Venuskränzlein von 1609, die umfangreiche Suitensammlung Banchetto musicale von 1617, die Musica boscareccia oder Waldliederlein von 1621-28 und 1624 die Diletti pastorale oder Hirtenlust, der zwei Jahre später der Studentenschmaus folgte. Schein starb schon mit 44 Jahren nach schwerer Krankheit.
Ob sein Nachfolger im Thomaskantorat, Tobias Michael, mit der studentischen Musikpflege in direktem Kontakt stand, ist nicht belegt. Dagegen spielt seit 1640 der Leipziger Student Johann Rosenmüller (1619-1684) unter seinen musizierenden Kommilitonen zweifellos eine besondere Rolle, wovon vor allem seine Instrumentalwerke, darunter die Studentenmusik von 1654, ein beredtes Zeugnis ablegen. Er war seit 1642 Hilfslehrer an der Thomasschule und seit 1651 Organist an der zweiten Hauptkirche Leipzigs, der Nikolaikirche.
Nach Michaels Tod finden wir unter den Bewerbern für das Thomaskantorat gleich zwei Namen, die für das Collegium musicum von besonderer Bedeutung werden sollten: Sebastian Knüpfer und Adam Krieger. Knüpfer, dem der Rat 1657 das schon damals sehr begehrte und berühmte Amt übertrug, war 1633 in Asch (Oberfranken) geboren. Mit 13 Jahren wurde er Schüler des protestantischen „Gymnasium poeticum“ in Regensburg. 1654 kam er nach Leipzig. Er soll ein ausgezeichneter Sänger - Baß - gewesen sein. Ihm ging der Ruf eines gelehrten Philologen voraus. 1663 schrieb er für die Leipziger Studenten die Lustigen Madrigalien und Canzonetten. Dem unter seinem Vorgänger allem Anschein nach zurückgegangenen Ansehen des Kantorats verschaffte er durch die Komposition wertvoller Kirchenmusik und durch beachtliche Aufführungen neuen Glanz. Sicher konnte er bei den Aufführungen auch mit der Unterstützung durch die Studenten rechnen.
War bis dahin das Liedschaffen nur eine Nebenbeschäftigung der Komponisten gewesen, so begegnen wir in Adam Krieger einem Mann, bei dem das Lied zu einem wesentlichen Zweig seines Schaffens wurde. Als seinen Lehrer nennt er den großen Orgelmeister Samuel Scheidt in Halle. 1650 oder 1651 kommt er nach Leipzig, wo er unter den musizierenden Studenten bald eine führende Stellung einnimmt. Mattheson schreibt darüber im II. Teil seiner Critica musica (Hamburg 1725): "Dieser Adam Krieger hat zu seiner Zeit eine musikalische Societät„ so das ,Cymbalische Reich' genennet worden, und worin er König gewesen, aufgerichtet." Als Rosenmüller 1655 über Hamburg nach Venedig ging, wurde er dessen Nachfolger als Organist der Nikolaikirche, in der er auch Sonn- und Festtagsmusiken aufführte.1657 erschien in Leipzig seine erste Liedersammlung: Arien von einer, zwei und drei Vocalstimmen benebenst ihren Ritornellen. Diese Ritornelle waren instrumentale Vor- und Zwischenspiele, in der Regel für Streicher, die nach jeder Liedstrophe erklangen. Damit wurde einerseits das Lied durch einen künstlerischen Faktor bereichert, andererseits aber auch den Wünschen der Studenten, nicht nur vocaliter, sondern auch instrumentaliter zu musizieren, aufs glücklichste entsprochen. Das gleiche Jahr brachte Krieger die ehrenvolle Berufung zum Hoforganisten, und Musiklehrer einer Tochter des Kurfürsten in Dresden. Als im gleichen Jahr derThomaskantor Tobias Michael starb, bewarb er sich um dieses bedeutende Amt. Daß er dem zwei Jahre älteren Knüpfer trotz seiner großen Anerkennung in den Leipziger Bürgerkreisen und trotz Unterstützung durch den Dresdener Hof unterlag, hat vielleicht nicht nur künstlerische Gründe gehabt. In seiner Eingabe an den Rat der Stadt. der das Kantorat zu vergeben hatte, hatte Krieger um Befreiung vom Schulunterricht gebeten. Dieser bestand für den Thomaskantor in wöchentlich vier Lateinstunden, einer Katechismusstunde und sieben Musikstunden neben der eigentlichen Kantorenarbeit. Krieger begründete sein Anliegen: „Maßen derjenige, der sich in der Schule abarbeitet, nachmals schlechte Lust hat, ein musicalisch Concert aufzusetzen, und ohne Lust zu componieren, pflegt schlecht zu geraten.“ Diese Auffassung gefiel den meisten Ratsherren absolut nicht. Kriegers Talent als Liedkomponist aber konnte sich unbelastet von den kirchenmusikalichen Anforderungen eines Kantorats in der Großzügigkeit Dresdens frei entfalten. So wurde er zu einem der bedeutendsten Liedkomponisten des 17. Jahrhunderts. Mit 32 Jahren riß der Tod ihn 1666 aus seinem Schaffen.Ein Jahr später gaben seine Freunde seine Neuen Arien für ein bis fünf Vokalstimmen, „benebenst ihren Ritornellen auf zwei Violinen, zwei Violen und einem Violon samt dem Basso Continuo“ in Dresden heraus (50, später 60 Lieder).
Noch war diese zweite Liedsammlung in Leipzig nicht bekannt - da erschienen daselbst die dreißig Weltliche Arien und Canzonetten mit 1, 2 bis 4 Vokalstimmen, sambt beigefügten Ritornellen von 2, 3, 4 bis 5 Instrumenten benebenst dem Basso Confinuo von Johann Theile.
Johann Theile, 1646 zu Naumburg a. ol. S. geboren, wurde schon mit 12 Jahren an der Leipziger Universität inscribiert. Vier Jahre später erfolgte seine Immatrikulation als stud. jur., womit er den damals üblichen Weg einer akademischen Bildung für den Beruf eines gehobenen Musikers antrat. Sein Lehrer in der Komposition war der berühmte Heinrich Schütz, der seinen Lebensabend im nahegelegenen Weißenfels verbrachte. Den jungen Studenten schätzte man im Collegium musicum als hervorragenden Gambenspieler und als Komponisten der Weltlichen Arien. Hermann Kretzschmar zählte sie in seiner Geschichte des neuen deutschen Liedes zu den originellsten und bedeutendsten Leistungen, die das deutsche Lied des 17. Jahrhunderts aufzuweisen hat. Kurz nach dem Tod von Heinrich Schütz (1672) tritt Johann Theile in Lübeck als Komponist einer beachtlichen Matthäus-Passion hervor, die musikgeschichtlich genau zwischen den Passionen von Schütz und Bach steht. Vier Jahre spater, am 2. Januar 1678, wird in Hamburg die erste deutsche Volksoper mit Theiles Adam und Eva eröffnet (die Musik ist verschollen). 1685 erfolgt seine Berufung als Kapellmeister nach Wolfenbüttel. Von 1691 bis etwa 1715 ist er in gleicher Stellung in Merseburg. In diesen Jahren beschäftigt ihn neben der Komposition von Kirchenmusik besonders die Abfassung von theoretischen Werken über den Kontrapunkt. Sein berühmtestes Werk dieser Gattung, das Musikalische Kunstbuch von 1691, enthält keine in Worte gefaßte Regeln, sondern praktische Beispiele, abgeschlossene Instrumentalsonaten sowie Messensätze und ist so in mancher Beziehung ein Vorläufer von Bachs Kunst der Fuge. Seine Zeitgenossen nannten ihn den „Vater der Kontrapunktisten“. Er starb 1724 in seiner Heimatstadt Naumburg.
Doch kehren wir zurück nach Leipzig. Dort war der Thomaskantor Sebastian Knüpfer, unter dem Theile als junger Student im Collegium musicum wie in den Kirchenmusiken als Gambist wirkte, nach schwerer Krankheit, nur 44 Jahre alt, gestorben. Sein Nachfolger wurde Johann Schelle, der 1648 in Geising im Erzgebirge geboren war. Durch Vermittlung von Heinrich Schütz kam er als Diskantist in die kurfüstliche Kapelle nach Dresden, war als junger Sänger sieben Jahre in Wolfenbüttel und anschließend Alumne des Thomanerchors. 1667 als Theiles Arien erschienen, finden wir ihn in der Matrikel der Leipziger Universität. Schon drei Jahre später erhielt er einen Ruf als Stadtkantor nach Eilenburg. Als Thomaskantor von 1676 bis zu seinem Tode 1701 schrieb er eindrucksvolle Kirchenmusiken und Weltliche Kantaten, z. T. in großartiger Besetzung, die besonders festlichen Amlässen musiziert worden sind. Daß dabei auch das Collegium musicum mitwirkte, darf als selbstverständlich angenommen werde.
Willy Maxton

Rosenmüllers - Sonate da camara
Ein einziges erhaltenes Druckexemplar nur birgt einen der kostbarsten Zyklen deutscher Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts - und zugleich auch ein Werk von musikgeschichtlich hoher Bedeutung: eine Sammlung mit dem Titel Sonate da camera. Venezianischer Herkunft ist dieser Druck von 1670 allem Anschein nach, und der Komponist der elf Kammersonaten nennt sich „Giovanni Rosenmiller“. Flucht hatte diesen Johann Rosenmüller (1619-1684) gezwungen und Erwartung dazu verleitet, Norditalien aufzusuchen, um die jüngste Entwicklung südlicher Musik an der Quelle kennenzulernen. Flucht? In Leipzig, wo Rosenmüller nach Universitätsstudien unter anderem stellvertretend das Thomaskantorat übernommen hatte - mit Aussicht auf endgültige Anstellung als Nachfolger des kränklichen Tobias Michael -, dort hatte man ihn 1655 eingekerkert. Abartiges Verhalten, so heißt es, sei Ursache der Inhaftierung gewesen. Es gelang ihm zu entfliehen, zunächst nach Hamburg, wenig später dann nach Italien. Im regen Musikleben der oberen Appeninhalbinsel muß er untergetaucht sein, im Brennpunkt künstlerischen Geschehens; sicher aber nicht lange namenlos, denn 1674 hat man ihn aus Venedig gerufen: er sollte das Amt des Kapellmeisters am Wolfenbütteler Hof übernehmen.
Das Titelblatt von Rosenmüllers Sonate da camera trägt den Zusatz, daß es sich um „Sinfonie, Alemande, Correnti; Balletti. Sarabande“ handele, die man mit fünf Streich- oder anderen Instrumenten spielen könne. Daß in jedem Falle noch ein oder zwei Generalbaßinstrumente hinzutreten müssen, geht aus dem Wortlaut des Titelblattes selbst nicht hervor. Die graphische Gestaltung dieser ersten Seite ist ein Fingerzeig auf das Besondere der elf Instrumentalzyklen, die Rosenmüller unter der Bezeichnung von Kammersonaten in den Druck gegeben hat: nicht der Terminus „Sonate da camera“, sondern der Begriff „Sinfonie“ ist mit den größten Typen gedruckt. Jede der elf Tanzsuiten - denn solche stellen die Sonaten dar - wird durch eine Sinfonia eröffnet. Im Umfang und Gehalt ist sie der beherrschende Satz einer jeden Folge, ähnlich wie später die Ouvertüren in den Orchestersuiten Johann Sebastian Bachs. Das venezianische Opernvorspiel hat gleichsam Pate gestanden. als Rosenmüller seine Sinfonien geschrieben hat. Italienische Musik hat die Anregung gegeben: entstanden aber sind typisch deutsche Kompositionen. Darauf deutet nicht nur die Fünfstimmigkeit der ganzen sonaten. Um jedoch auch der Vorliebe der Italiener für den Triosatz entgegegenzukommen, hat Rosenmüller die Partien so gesetzt, daß man zwei Mittelstimmen weglassen kann. In mehrere, nicht nur takt- und tempomäßig scharf kontrastierende Abschnitte gliedert sich die Sinfonia der 11. Kammersonate, eine der schönsten, erhabensten der ganzen Sammlung: drei grundverschiedene Teile werden durch tiefatmende, spannend tragende Überleitungen verbunden. Eine vom Prinzip der italienischen Opernsinfonia abweichende Eigenart Rosenmüllers: der kantable zweite Teil, das Kernstück einer verıezianischen Opernouvertüre, wird abschließend wiederholt. In allen elf Kammersonaten sind es vier Stammsätze, die Rosenmüller den großangelegten Einleitungen anreiht. Nur in zweien wird eine Intrata zwischengeschaltet, und zweimal sind noch einige Tänze angehängt. In unserer Kammersonate, in der sich der fünfstimmige Streichersatz mit den Generalbaßklängen eines kostbaren alten Spinetts und einer doppelchörigen Knickhalslaute verbindet, folgt der schwebenden Alemanda die hurtige Correnta im Dreihalbentakt, und eine weniger gravitätische, auffallend fließende Sarabande schließt sich einem grotesken Ballo an, dessen Schlußtakte in beiden Satzhälften wie Prellböcke die kapriziöse Bewegung auffangen.
Walter Thoene

Johann Christoph Pezel
Aus Schlesien war der 25jährige Musiker Johann Pezel (1639 bis 1694) nach Leipzig gekommen, wo man ihn in die Vierergruppo der „Kunstgeiger“ einreihte. Seine Fertigkeit im Clarinblasen scheint dann der Anlaß gewesen zu sein, ihn um die Jahreswende 1669/70 zu den Stadtpfeirern überwechseln zu lassen. Für díesen neuen Dienst, den er nun als Raths-Musicus verrichten mußte, hat Pezel eine stattliche Anzahl von Sonaten für zwei Zinken (Cornetten) und drei Posaunen (Trombonen) „inventirt“ und „componirt“. Sie waren gedacht für das „Abblasen... von den Thürmern“.
Mehr auf den ernsthaften, feierlichen Charakter als auf ein langsames Tempo deutet die Bezeichnung „Adagio“ über der 1. und der 39. Sonate des Druckes, in denen sich der näselnde, trompetenartig durchdringende Klang der Zinken mit dem kraftvollen, ebenfalls etwas rauhen Timbre der Posaunen zu einem idealen Freiluft-Blaserensemble verbindet.

Johann Kuhnau
Wenn ein Musikstudent beim Examen im Nebenfach „Musikgeschichte“ nach Johann Kuhnau gefragt wird, dann erwartet der Prüfer als Antwort: daß Johann Kuhnau 1. Vorgänger Bachs im Leipziger Thomaskantorat gewesen sei, daß er 2. die erste deutsche Klaviersonate komponiert habe und daß 3. seine Biblischen Historien Programmusik darstellten. Das genügt, auch wenn sich die Kenntnis dieser drei Fakten (von denen das zweite fragwürdig ist) mit keinerlei Vorstellung von Gestalt und Klang irgendeiner Kuhnauschen Musik verbindet. Unnotig zu wissen, daß er viel mehr geschaffen hat - eine Fülle von Kirchenmusik, vor allem auch Kantaten (in lateinischer wie in deutscher Sprache). Nach seinem Jurastudium und neben dem Organistenamt an St. Thomae ist Kuhnau auch Advokat und Übersetzer gewesen; er hat musiktheoretische Abhandlungen und vier Romane verfaßt. Keine vier Jahrzehnte nach dem Tode des Thomaskantors (1722) schrieb der deutsche Musikgelehrte Jakob Adlung über ihn: „Ich weiß nicht, ob er dem Orden der Tonkünstler, oder den anderen Gelehrten mehr Ehre gebracht. Er war gelehrt in der Gottesgelahrtheit, in den Rechten, Beredsamkeit, Dichtkunst, Mathematik, fremden Sprachen und Musik.“ Ein beträchtlicher Teil seines Werkes ist verschollen. Erhalten vor allem sind seine vier gedruckten Sammlungen mit insgesamt 14 Suiten („Partien“ genannt) und ebenso vielen Sonaten für „Clavier“ - das hieß ja damals für Cembalo, Spinett oder Clavichord, teilweise sogar auch für die Orgel als Kirchen- oder Hausinstrument. Auf dem Titelblatt des 1. Teils von Johann Kuhnauens Neue Clavier-Übung, seiner ersten Sammlung, ist unterhalb vom Komponistenportrait ein einmanualiges Cembalo dargestellt. Auf einem instrument dieser Art - entstanden 1761 im Londoner Atelier von Jacob Kirkman - ist die Partie III aus jener Sammlung in unserer Aufnahme gespielt worden.
Pathetisch und doch wie eine Improvisation - so hebt Kuhnaus herrliche Musik an. Zwei kombinierte 8'-Register geben diesem Praeludium Kraft und Glanz, so, wie es die Harmoniefolge erheischt, die vom ersten bis zum letzten Takt von ein und demselben Rhythmus bewegt wird. Rund, schmiegsam, ein wenig schwärmerisch auch ist der Verlauf der Allemande. Ihre melodische Kernlinie, ihr harmonischer Wandel, beides wird von der Courrante übernommen; Taktart, Rhythmus und Tempo aber sind umgebildet: ein hurtiger Tanz zieht dahin, quirlend und glitzernd durch den Reichtum an Ornamenten, den Accenten, Arpeggien und Mordenten, den Schleifern und Trillern.
Einen noch schärferen Kontrast bilden dann Sarabande und Menuet (hier an Stelle der Gigue als dem häufigsten Suitenabschlußsatz). Eine Musik von berührender Größe bergen die beiden kurzen Sarabanden-Zeilen des Druckes. Man denkt unwillkürlich an eine der ganz großen Opernarien Handels, der sich - ebenso wie J. S. Bach - nachhaltig von Kuhnau hat beeinflussen lassen. Wie ein Monument in Miniatur ist diese Sarabande. Keck, fast kokett spritzt dann ein elegantes Menuet aus ihr hervor. Die Partie III ist ganz gewiß im Vergleich zur vielzitierten „ersten“ deutschen Klaviersonate und den Biblischen Historien, von deren Existenz der Prüfling wissen muß, ein „Wurf“. Diese Musik sollte man im Ohr haben, wenn man an Johann Kuhnau denkt.
W. Th.

Das deutsche Generalbaßlied
Überschaut man die Geschichte des deutschen Kunstliedes, so könnte man im wesentlichen vier Hauptphasen aneinanderreihen: zuerst die Ära der unbegleiteten Monodie - Minne- und Meistergesang - die vom Ende des zwölften Jahrhunderts, Ausdruck ritterlichen Kunstempfindens, bis ins siebzehnte Jahrhundert, Nachklang bürgerlich-handwerklichen Bestrebens, reicht. Zweitens hebt von etwa 1390 beim Münch Hermann von Salzburg, dann teils bei den homophonen, teils kanonisch polyphonierten Sätzen des Tiroler Ritters Oswald von Wolkenstein und bei den Hausmusikterzetten im Liederbuch des Nürnberger Patriziers Wölflein Lochamer um 1450 die Epoche des mehrstimmigen Liedes an, die zwei Generationen lang ein instrumental umrahmtes Solotenorlied darstellt, um seit 1586 unter dem Einfluß humanistischer Wortgebundenheit zum solistisch oder chorisch besetzten A-cappella-Lied zu werden. Um 1600, etwa mit Hans Leo Hasslers Mein gmüt ist mir verwirret von einer Jungfrau zart (Melodie später in O Haupt voll Blut und Wunden) verbindet sich ältere, korporative Quintettbesetzung mit neuem, subjektivem Ichliedgepräge. Und nun drittens, mit dem Einbruch des Barocks um 1620, sinkt das Gewebe der vielen Stimmen, dessen tenorale Mittelachse ohnehin längst zur Sopranmelodie strebte, zur Geringstimmigkeit dahin, nur von Diskant und Baß außen umrissen, und die musikalische Stenographie der „Bezifferung“ füllt die malerische Innenfläche zwischen diesen Konturen mit akkordischen Halbimprovisationen aus: dem Generalbaß oder Basso continuo.
Dieser Hauptabschnitt sollte rund 150 Jahre lang, also bis gegen 1770, währen. Generalbaß und Basso continuo entstammen als identische Bezeichnungen der gleichen Praxis: bei mehrchörig abwechselnden Gruppen, wo bald der Baß des ersten, bald der des anderen Chores erklang, schrieb sich der Orgel- oder Cembalospieler, dessen Vollgriffe etwaige Klanglücken im Stegreif ausfüllten, einen ununterbrochenen Fundamentpart zusammen. Hatte er zuvor das ganze zur Klangverstärkung partiturartig „intavoliert“, so fügte er jetzt zu den wenigen Horizontallinien anhand der Ziffernsymbole - oder auch nur seinem Gehör und Instinkt folgend - das Vertikalelement getürmter Klangfunktionen, wobei es seinem Geschmack und seiner Geschicklichkeit überlassen blieb, ob er die Akkorde eng oder weit, hoch oder tief, schlaghaft oder figurierendgebrochen auszuführen gestimmt war: er konnte das je nach dem Textsinn strophisch oder zeilenweis variieren, und so nicht nur beim Lied, sondern in allen vokalen wie instrumentalen Gattungen der „Generalbaßzeit“. Vielleicht mit Ausnahme der Kurrendemotetten; aber Pater Abraham a SantaClara erzählt, daß die Wiener Studenten bei Freiluftserenaden vor der nahenden Nachtwache sogar ihre Cembali in nächtlichem Sturmlauf zu retten wußten. Und im Königsberg Simon Dachs wurde am offenen Grabe gegenüber der Trauergesellschaft zu einem Orgelportativchen oder Clavichord namens des Heimgegangenen ein rührender Widerruf abgesungen, in dem die Zeile begegnet: O haltet Mund und Nase zu, ich stink... Vergänglichkeitsekstase des Mittelbarocks...
Die vierte und vorläufig (wenn man vom neuen Erstarken des Chorliedes in unserer Zeit absieht) letzte Periode wurde seit 1750 das stimmungshafte Klavierlied ohne Generalbaß - man sieht, es ging nicht ohne zeitliche Überschneidungen ab. Diese zeigen sich auch darin, daß die Besetzungswechsel sich nur recht allmählich und übergangsweise vollziehen, so daß bei fortschreitender Forschung vermeintliche Lücken sich schließen. Hatte z. B. mein Lehrer Hermann Kretzschmar in seiner Geschichte des neuen deutschen Liedes (von Heinrich Albert bis Zelter, 1911) es so dargestellt, als werde das Chorlied des 16. Jahrhunderts in Gestalt von Madrigal, Villanelle und Canzonette ruckhaft durch die "Generalbaßmonodie" abgelöst und ersetzt, was einer Unterbrechung der Geschichte des Chortliedes durch anderthalb Jahrhunderte bis zu den gemischten Chorliedern Joseph Haydns und den ersten Männerquartetten von Michael Haydn gleichgekommen wäre, so konnte ich 1933 in meinem Buch Corydon den Nachweis führen, daß auch durch die ganze Continuoperiode hin erst das Generalbaßmadrigal, dann das bezifferte mehrstimmige Quodlibetlied geblüht haben - allein bei Heinrich Albert, dem Thüringer in Ostpreußen, begegnen neben einstimmigen und ausgeterzt zweistimmigen Monodien Terzett- und Quintettsätze in reicher Zahl. Aus meinem genannten Werk stammen denn auch jene Leipziger Collegiumsstücke von Theile, Knüpfer usw., die unsere Schallplatte bringt. Die geistige Führerschaft auch im Liede dieses Zeitalters hatte der Großmeister Heinrich Schütz inne, der Lehrer Theiles, des „Vaters der deutscher Kontrapunktisten“, der sich auch schon durch erstaunliche Engführung der Stimmen dieses Ehrentitels würdig erweisen sollte. Schütz war aber auch der Protektor des Leipziger Organisten und nachmaligen Dresdener kronprinzlichen Kammercembalisten Adam Krieger, der trotz eines Lebensalters von nur 31 Jahren das Liedgenie seines Jahrhunderts werden sollte, und dies nicht nur als Erfinder eindringlichster Melodien, sondern auch als deren Dichter von begnadeter Unterschiedlichkeit der Gegenstände und Stimmungen: Liebesbegeisterung und Trinklust, Schwermut und skurrile Grillen, all dies beherrscht er mit unfehlbarer Sicherheit, Hatten Nauwach und Schütz in Dresden noch mit der Steifheit Opitzscher Texte zu ringen gehabt, so fanden Albert in Simon Dach und David Pohle in Paul Fleming die kongenialen Lieddichter; Hammerschmidt in Zittau und Dedekind in Dresden verbanden sich mit den verschiedensten Literaten, aber die Personalunion beider Künste in Adam Krieger wurde zum einmaligen Glücksfall der Gattung. Man beachte auch die soziologische Seite der Entwicklung: gehörte zum Madrigalchörlein und zur knapp dreizeiligen Villanelle (einer Bauernparodie) die fürstliche oder patrizische Kammer und zu den Ouodlibets und Kanons die Gassenschenke, so gesellte sich zum entstehenden Generalbaßlied, wo Singsolisten sich um das Cembalo und dessen gambistische Baßverstarmng gruppierten, die neue Gute Stube. der Salon des barokken Bürgerhauses. Nun aber. um 1660, beteiligt sich auch das studentische Collegium musicum, für dessen Liedstrophen als Continuomelodie oft mit Chorrefrains das Streichensemble der Musensöhne - in Kriegers erstem Druck für drei, im zweiten für fünf Stimmen - das gleichwertige Gegengewicht schuf. Bei einem der bedeutendsten Nachfolger Kriegers, dem in Ostfriesland geborenen, in Rudolstadt als Hofkapellmeister wirkenden Philipp Heinrich Erlebach, überspann von diesem instrumentalen Widersang her die Orchesterbegleitung die gesamte Singstrophe nach Art einer Kantatenarie, und deren Strophenwiederholungen gemahnen an manch meistersingerlichen „überlangen Ton“. Eine andere, von dem Hamburger Rist organisierte Liederschule aber wirft den Collegiumsballast ab, und zu geistlichen Gedichten des hanseatischen Pastors Hinrich Elmendorf formen J. W. Franck, G. Böhm und Wockenfuß wieder reine Sololieder beim Cembalo von edelster Prägung. Doch das Eindringen der Hamburgischen frühdeutschen Oper in Gestalt von „Arienauszügen“ sowie italienischer Kantaten bereitete dieser bürgerlichen Kammerkunst ein rasches vorläufiges Ende - 1710 bis 1733 ereignete sich (mit geringen provinziellen Ausnahmen bei Buxtehudeschülern, meist in Stettin) „Deutschlands liederlose Zeit“. Dann, 100 Jahre nach Alberts Arienbeginn, kommt von Augsburg her das Tafelkonfekt des Banzer Benediktiners Val. Rathgeber, der für seinen Genieausbruch als reisender Troubadour bei der Heimkehr im Karzer unter der Klosterküche monatelang büßen sollte. Seine Sammlung, die der Augsburger Musikdirektor Johann Caspar Seyfert schwächer fortsetzte, steht als später Nachklang von Gymnasiastenaufwartungen noch zumeist im Barock des Seicentoi noch weiter verbreitete sich die Ausweitung derseit 1736 von Leipzig ausgehenden Lieferungen der „Singenden Muse an der Pleiße“ von „Sperontes“, dem armen kleinen Rechtsanwaltsgehilfen Joh. Sigismund Scholze, der hier für die studentischen Verehrer seines schlesischen Landsmannes Chr. Günther, eines François Villon des Rokoko, vorhandene tänzerische Klaviermusik mit dessen Versen zur Not singbar machte. Zur Not! - denn Telemann in Hamburg faßte seine Kritik gegen dieses Verfahren witzig in den eigenen Werktitel „bekwehm für alle Hälse“, und der braunschweigische Postrat Grafe in Halle sammelte die durch ein Speronteslied wider Blaustrümpfe verschnupften Leipziger Dichterinnen zu einem Konkurrenzunternehmen, das nun beste Komponistennamen wie Graun und Hurlebusch zu Originalvertonungen dieser Vorlagen aufrief. Graun gehörte aber auch zur ersten Berliner Liederschule des Advokaten Krause (wieder eines Schlesiers). der - nach Telemanns und Val. Gorners Anacreonticis im Zeichen Friedrich Hagedorns - die Knappheit rationalistischen Witzes lessingisch-friderizianisch mit dem koketten Reiz von französischem Vaudevilleton paarte. Diese klügelnde Odenfabrikation stieg alsbald, von den Großtalenten Ph. Em. Bach, J. Ph. Sack usw. durchkreuzt, zur wirklichen Erlebniskunst der zweiten Berliner Liederschule empor, deren Häupter J. A. P. Schulz, J. Fr. Reichert und C. Fr. Zelter sich durch die Lyrik der „Weimarer“ Herder, Goethe, Schiller wahrhaft begeistern und entzünden ließen. Damit aber war das Ende der Generalbaßzeit auch auf diesem intimen Felde gekommen: jetzt reichte die bloß harmonisch stützende Continuopraxis nicht mehr hin; das neue „Stimmungslied“ verlangte, unter Anlehnung an den Orchesterauszug der Opernkantate, den vollen Hammerklaviersatz als gleichgewichtigen Kompositionsanteil. Neefe und Zumsteeg, ersterer Lehrer des jungen Beethoven, letzterer ein Hauptanreger Schuberts, lenken zum Liedschaffen Joseph Haydns und Mozarts hinüber, und diese unsterblichen Namen besagen genug: die Lieder der Wiener Klassik führen zur Musikromantik des 19. Jahrhunderts, die dem Lied zwischen Oper und Sinfonie die gewaltige Blüte und eine Funktion ersten Ranges zuweisen sollte. Aber wenn auch Bach und Händel selbst der Generalbaßmonodie, ähnlich wie Schütz, nur zurückhaltend gehuldigt haben, so ist doch das Continuolied nicht bloß „Nebenstundenfleiß“ geblieben, wie seine Meister allzu bescheiden sagten, sondern hat hunderte prächtig geglückter Eingebungen durch 150 Jahre gezeitigt, die heute wieder faszinieren.
Prof. Dr. Hans Joachim Moser
(EMI Electrola 1 C 037-45 576)