MUSIK IN ALTEN STÄDTEN UND RESIDENZEN


1 LP - C 91 112 - (p) 1962
1 CD - CDZ 25 2242 2 - (c) 1990
1 CD - 9 28333 2 - (p) & (c) 2013

LÜBECK - Eine abendmusik in St. Marien




Franz Tunder (1614-1667) 1. Sinfonia a 7 viole "Da pacem Domine" - in DDT band 3, herausgegeben von Max Seiffert, Leipzig 1901
1' 49" A1




Dietrich Buxtehude (1637-1707) 2. Laudate pueri - Kantate für 2 Soprane, 6 Gamben & B.c. 6' 31" A2

3. Mein Herz ist bereit - Kantate für Bass, 3 Violinen & B.c. (57. Psalm Davids) 11' 09" A3

4. Präludium und Fuge g-moll 8' 18" A4




Franz Tunder 5. Ach Herr, lass deine lieben Engelein - Kantate für Sopran, 4 Gamben & B.c. 6' 29" B1




Dietrich Buxtehude 6. Ach Herr, mich armen Sünder - Orgelchoral 3' 21" B2




Nicolaus Bruhns (1665-1697) 7. Ich liege und schlafe - Kantate für Chor, 4 Solostimmen, Streicher & B.c. (Psalm 4,9) 16' 03" B3



 
Johannes Brenneke, Orgel der Jakobi-Kirche zu Lübeck (4,6) Windsbacher Knabenchor / Hans Tamm, Leitung (7)
Edith Mathis, Sopran (2,5) Consortium Musicum, (1-3,5,7)
Maria Friesenhausen, Sopran (2) - Helmut Heller, Violin - Emil Seiler, Viola (7)
Hermann Prey, Bariton (3) - Hans Gieseler, Violin - Heinz Jopen, Viola (7)
Lotte Schädle, Sopran (7) - Hans Bastian, Violin (3)
- Edith Klein, Viola (7)
Emmy Lisken, Alt (7) - Werner Neuhaus, Violin - Werner Sattel, Viola (7)
Georg Jelden, Tenor (7) - Matthias Nakaten, Violin - Alfred Lessing, Diskant-Gambe (1,2,5), Violone (7)
Franz Müller-Heuser, Bass (7) - Rolf Maschke, Violin - Rosemarie Lahrs, Diskant-Gambe (1), Alt-Gambe (2)

- Helga Thoene, Violin - Otto Kober, Alt-Gambe (1), Tenor-Gambe (2)

- Ruth Nielen-Wagner, Violin (7)
- Heinrich Haferland, Alt-Gambe (1,5), Tenor-Gambe (2)

- Horst Hedler, Tenor-Gambe (1,2,5), Violoncello (7) - Gerhard Naumann, Tenor-Gambe (1,2,5)

- Heiner Spieker, Violone (1,2,5) - Eugen M. Dombois, Theorbe (1,2,5)

- Walter Kraft, Positiv (1,2,5) - Wolfgang Meyer, Positiv (3)

- Rudolf Zartner, Positiv (7)

 






Luogo e data di registrazione
- Grunewaldkirche, Berlin (Germania) - gennaio 1962 (3)
- Münster, Heilbronn (Germania) - giugno 1962 (7)
- Marienkirche & Jakobi-Kirche, Lübeck (Germania) - giugno 1962 (1,2,4-6)


Registrazione: live / studio
studio

Producer / Engineer
Gerd Berg / Christfried Bickenbach / Horst Lindner

Prima Edizione LP
Columbia - C 91 112 - (1 LP) - durata 53' 59" - (p) 1962 - Analogico

Altre edizioni LP

-

Edizioni CD
EMI Electrola - CDZ 25 2242 2 - (1 CD) - durata 53' 59" - (c) 1990 - ADD
EMI Music - 9 28333 2 - (1 CD) - durata 53' 59" - (p) & (c) 2013 - ADD


Cover
Ausschnitt aus dem Lübeck-Panorama des Elias Diebel 1552 - St. Marien














Die Abendmusiken in St. Marien
Zwanzig Kilometer vor der Mündung der Trave in die Ostsee liegt die Hansestadt Lübeck, inmitten weiter ländlicher Bezirke einstmals ein reger und mächtiger Handelsplatz, dessen Kaufmannschaft und Schiffahrtsgesellschaften ihre Koggen bis in die entferntesten Häfen entsandten und die Geschicke der Freien Stadt mit Umsicht und Sorgfalt Ieiteten. In gemessener Entfernung vom Dom, der Bischofskirche, hatte sich der Rat - im Mittelpunkt der Stadt und wenige Schritte vor dem Rathaus - im 13. Jahrhundert die St. Marienkirche als einen machtvollen Ausdruck seiner Repräsentation und Würde erbaut. Der Kupferstich (1641) von Matthäus Merian zeigt die wuchtige Silhouette in der Mitte der türmereichen Stadt. Umflossen von den Wassern der Unter- und Obertrave bildet der befestigte Platz eine enge Geschlossenheit, die sich stets in einem vorsorglichen und umsichtigen Gemeinschaftsgefühl ihrer Bürger wiederfand. Der private Opfersinn der Handelsherren unterstützte nicht nur die Einrichtungen des sozialen Zusammenlebens und einer vorbildlichen Armenpflege, er förderte ebenso die kirchlichen und kulturellen Belange.
Immer wieder fanden sich angesehene und vermögende Bürger zur weiteren Ausgestaltung der St. Marienkirche bereit: zur Stiftung einer Sängerkapelle, zu der Schenkung eines Altars oder dem Ausbau besonderer Emporen für die Abendmusiken. Zahlreiche Epitaphe mit barocker Verzierung und den Bildern der Verstrbenen zeugten - bis zur Zerstörung in einer Bombennacht des Jahres 1942 - von großen Förderern, und der berühmte Lübecker Totentanz von Bernt Notke vereinigte alt und jung, arm und reich, Patrizier und Bauern zu unterschiedslosem Reigen ins Dunkel des Todes. Uber ihm, an der Nordseite der Kirche, sendete die Totentanzorgel ihre Fürbitte in Präludium und Choral zu dem allumfassenden Schöpfer, dem die Menschen gläubig und in unbegrenztem Vertrauen anhängen.
So erhielt die kirchliche Stätte ihr besonderes Gepräge. Uber die Bestimmung als Gotteshaus hinaus diente St. Marien dem Hoch- und Wohlweisen Rate der Stadt als Versammlungsort für wichtige Absprachen und als Musikstätte, in der die Herren Kaufleute und Patrizier den Klängen der großen Orgel an der Westseite lauschten, bis die Frachtenabschlüsse mit den Schonen-, Nowgorod-, Bergen-, Riga-, Stockholmfahrern und der Handel mit Salz, Heringen, Wein und Tuchen sie in die Börse verwies. Nach dem Beispiel der niederländischen Städte Amsterdam, Leiden und Utrecht ließen sie sich von ihrem Organisten Franz Tunder des Donnerstags, am wöchent.lichen Börsentag, zur ,Verkürzung der Wartezeit etwas vorspielen, und seine große Kunst in der Gestaltung der Toccaten, Präludien und Fugen erfreute sie zu ihrer Kurzweil. Ihr Beifall zeigte sich nicht allein in anerkennenclen Worten, er rief die Opferfreudigkeit in Form einer besonderen „Accidenz" hervor, den klingenden Beitrag aus ihren Geldtaschen. Die Börsenkonzerte bildeten den Beginn der Abendmusiken. Die finanziellen Zuwendungen nahmenı allmählich einen stattlichen Umfang an. Hinter der Großzügigkeit und Spendenfreude der Kaufherren wollte der Organistund Werkmeister Franz Tunder nicht zurückstehen; er bereicherte seine Darbietungen durch Hinzunahme weiterer Solisten. Ratsmusikanten mit ihren Violinen, Gamben, Lauten sowie Sänger traten hinzu, und mit dem größeren Aufwand bildete sich eine neue Musikübung, die sich nicht mehr nur an die Börsenzeit hielt. Tunder selbst sprach von „Abendspielen", die an bestimmten Tagen nach dem Abendgebet für eine größere Zuhörerschaft erklangen. Orgelvorträge, Instrumentalsoli und Gesangsstücke bildeten das Programm dieser „Abendspiele", die als außergottesdienstliche musikalische Ereignisse zu jener Zeit Eínmaligkeit besaßen.
Kurz vor seinem Tode konnte der alte Meister Tunder noch sein Vermächtnis einem Jüngeren in die Hände legen. Der in Bad Oldesloe 1657 geborene Organistensohn Dietrich Buxtehude, inzwischen zum Betreuer des Amtes an der Deutschen Kirche in Helsingör gereift, bewarb sich 1667 um den angesehenen Posten des Marienorganisten und erhielt - nach seiner Einwilligung, die Tochter Tunders zu heiraten - die Stelle. Mit ihm zog ein Mystiker und grüblerischer Gestalter in das Amt ein. Bald gewann Buxtehude das Vertrauen der Geistlichkeit. Er war dem Hause des Superintendenten Meno Hanneken verbunden und schrieb dem Sohn einen Kanon ins Stammbuch. Er erfreute sich der Gunst von Christoph Siricius, dem Sohn des ehemaligen Pastors der Marienkirche. Auch die weltliche Obrigkeit erkannte die Vorzüge ihres Organisten. Die Bürgermeister Johann Ritter, Heinrich Kirchring und Peter Heinrich Tesdorpf gehörten zu seinen Gönnern. Der letztere» hat später seinen Enkeln „dess öfteren laut gepriesen, daß der seelige Buxtehude in der Inbrunst seiner Compositiones es wohl verstanden habe, ihn die himmlische Sehnsucht vorahnen zu lassen. Er hat auch für die Erhaltung der Advent-Musiken in St. Marien in seinem Ambte ein lautes Wort geredet."
Unter Buxtehude bekamen die Abendmusiken eine neue Form. Anstelle der regelmäßigen Börsenkonzerte oder abendlichen Vorführungen verlegte er die Aufführungszeiten auf die beiden letzten Trinitatissonntage und den 2.bis 4. Advent. Diese Tage waren bisher musikalisch nicht besonders bedacht gewesen und dienten vornehmlich der inneren Einkehr und Buße vor der Ankunft des Herrn. Nun also fanden nach der Sonntagsnachmittagspredigt von 4-5 Uhr die Abendmusiken statt. Nach umfangreichen Vorbereitungen, zu denen der Ausbau von vier weiteren Emporen neben der Orgel gehörte, begannen im Jahre 1673 die ersten Abendmusiken Buxtehudes an den vorgenannten Tagen. In einem Brief an seine. Gönner, die „commercijrenden Zünffte", konnte Buxtehude diese Veranstaltungen als „ein sonst nirgendwo übliches Werk" bezeichnen. Dank der vielfachen Förderung von Kaufmannschatt und Rat war er als Unternehmer dieser großen Musiken in der Lage, eine stattliche Schar von Mitwirkenden zu verpflichten. Einmal schreibt er von einem „weitläufigen“ Werk, zu dem viele „Gehülffen an Instrumentisten und Sängern, beynahe an die 40 Persohnen" erforderlich gewesen seien. Bei den letzten „extraordinairen" Abendmusiken des Jahres 1705 waren nach den Besetzungsangaben allein schon so viele Instrumentalisten beteiligt: zwei Chöre Trompeten und Pauken, zwei Chöre Waldhörner und Oboen, eine Sinfonia all'unisono mit 25 Violinen sowie zwei Vokalchöre zeugen von dem Glanz und der Herrlichkeit dieser Festmusiken, die von den Höhen der sechs Emporen, mit den Orgeln und getrennt aufgestellten Sängerchören das gewaltige Kirchenschiff erfüllten.
Ein wahrhaft prominenter Gast war unter den Zuhörern dieser „Templum Honoris" genannten Abendmusik: der zwanzigjährige Johann Sebastian Bach, weiland noch ein kleiner thüringischer Organist aus Arnstadt, in dem der siebzigjährige Meister an St. Marien die göttliche Berufung ahnen mochte. Vielleicht hat er ihn, den vielseitig begabten Jüngeren, um seine Mitwirkung als Organist, als Hilfskapellmeister für die getrennt aufgestellten Chöre, als Violenspieler oder schlicht als Sänger gebeten, hatte Buxtehude doch so viele Helfer bei diesem Werk des Jubels und der Freude nötig!
Nicht immer genügten die Solisten aus dem Schulchor der Lateinschule; dann mußten die Sänger aus Kiel, Hamburg oder Lüneburg herbeigerufen werden, um die Lücken auszufüllen. Auch der Chor der Katharinenschule stand dem Marienorganisten für die Abendmusiken nicht ohne weiteres zur Verfügung. Es bedurfte der Zustimmung des Rektors, die erst der achtungsvoll vorgetragenen Bitte folgte. Zusammenarbeit und Einvernehmen mit dem Kantor, dem allein im Gottesdienst der Kirchenchor unterstand, schufen günstige Voraussetzungen, und es fügte sich glücklich, daß der Inhaber dieses Amtes in Buxtehudes ersten Dienstjahren sein Schwager Samuel Franck war. Auch er hatte eine Tochter Tunders geheiratet, und die Verwandtschaft erleichterte die Verhandlungen des dienstlichen Verkehrs.
Neben der künstlerischen Aufgabe des Komponierens und Eínübens der Abendmusiken ist die umsichtige organisatorische Vorbereitung nicht gering zu achten. Der Druck der Textbücher, gewöhnlich in 4°, geschah bei besonderen Anlässen der Jahrhundertfeier oder der außerordentlichen Abendmusiken im Großformat. Die Texte wurden den Honoratioren persönlich zugestellt und dienten als Ausweis für die besseren Plätze auf dem Lettner inmitten der Marienkirche. Besondere Wachen sorgten für die Beachtung der bevorrechteten Sitze. Auch sonst war der Einsatz der Stadtwache notwendig, um für Ruhe und Ordnung in der abendlich dunklen Kirche zu sorgen. Einmal waren es 5 Korporale und 18 Gemeine, die Buxtehude zu besolden hatte, und nicht immer vermochten die Hüter der Ordnung der Unruhe und Störungen Herr zu werden. Der Aufwand an Kerzen war groß; für die besondere Versorgung der Herren Bürgermeister, der Herren des Rates und anderer vornehmer Zuhörer mit Licht mußten allein 2 Pfund kleine Wachslidıte berechnet werden. Aber zur strahlenden Beleuchtung der ganzen Marienkirche reichte es nicht, und so sammelte sich in den dunklen Ecken eine von der Musik weniger berührte Zuhörerschaft, die zur Ruhe ermahnt werden mußte.
Die Chöre mochten wohl auswendig singen, aber die Instrumentalisten mußten mit Kerzen versorgt werden. Zahlreich waren die Ratsmusikanten beteiligt. Sie bildeten den Stamm des Orchesters, das aus Violinen, Violen, Tenor- und Baßgamben, Flöten, Zinken, Fagott, Baßbombard, Trompeten, Waldhörnern, Posounen und Pauken bestond. Unter den solistisch konzertierenden Aufgaben waren Instrumentalpartien, die der Leistung der Ratsmusikanten und Stadtpfeifer alle Ehre machten. In der Stadtbeschreibung Konrad von Hövelens, „Der Kaiserlichen Freien Reichs-Stadt Lübeck Glaubund Besöhewürdige Herrligkeit", stellt der Verfasser fest, daß „die Rates-Musici gar hohen Wörtes" sind. Sie bildeten die allzeit bereite Musikerschaft der Stadt und setzten für die Abendmusiken -und Kantaten in St. Marien ihr ganzes Können ein.
Uber die kompositorische Anlage der Abendmusiken unterrichten uns die Textbücher und erhaltenen Kantaten. „Die Hochzeit des Lammes", nach dem Gleichnis der fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen 1678 aufgeführt, beginnt mit einer Instrumentalsonate. Ihr folgt der Gesang zweier Engel mit der frohen Verkündigung der Ankunft des Bräutigams. In Rezitativen, Arien und Duetten schließen sich die Aussagen von Jesus, den Klugen und den Törichten an, wöhrend die personifizierte Kirche, der himmlische Chor und die Seligen die choríschen Blöcke an den großen bezeichnenden Stellen bilden. In, der Abendmusik von 1700 stehen freie Dichtungen neben Psalmkompositionen und Chorölen. Der 4. Advent bringt als fünfte Folge der Abendmusik eine Wiederaufnahme des zu Anfang des Jahrhunderts „praesentierten Jubiläeums oder hundertjährigen Gedichts vor die Wohlfahrt der Stadt Lübeck". Es mischen sich rein weltliche Stücke mit ein, wie der eben genannte Text oder das „Winterlied" der vierten Folge. „Das allererschröcklichste und allererfreulichste / nehmlich Ende der Zeit und Anfang der Ewigkeit" und „Die Himmlische Seelenlust" sind als zyklische Abendmusiken nur dem Titel nach bekannt. Die „extraordinairen" Abendmusiken des Jahres 1705, als Gedenkfeier zum Tode Kaiser Leopolds I., „Castrum Doloris" genannt, und das „Templum Honoris" als Freudenfest zur Thronbesteigung Josephs I. liegen ebenfalls nur im Textbuch vor.
So gibt es keine erhaltene Musik zu diesen oratorienartigen Werken, aber das Erbe von über hundert .Kantaten, von denen einzelne sehr wohl in den Abendmusiken erklungen sein können, läßt uns den Gehalt und Wohlklang der Kunst Buxtehudes ahnen, die erst in unseren Tagen so recht ín seinem Orgel- und Kantatenwerk zu uns zu sprechen beginnt.
GEORG KARSTÄDT

Tunder - Buxtehude - Bruhns
Die Entwicklung der Musica sacra in Lübecks Marienkirche findet in dem Wirken zweier Männer einen imponierenden Höhepunkt, der weit über das rein geschichtliche Interesse in die Musikpflege unserer Tage hineinstrahlt: Franz Tunder und Dietrich Buxtehude. Diesen beiden muß Nicolaus Bruhns an die Seite gestellt werden, denn obwohl er an der Marienkirche nie ein kirchenmusikalisches Amt bekleidet hat, stand er als Líeblingsschüler Buxtehudes geistig der Lübecker Kirchenmusik jener Glanzzeit sehr nahe. Daß aus dem Lieblingsschüler nicht auch der Nachfolger Buxtehudes werden konnte, verhinderte ein allzu hartes Geschick, das diesen hochbegabten Musiker und Komponisten schon mit 51 Jahren aus dem Leben riß.
FRANZ TUNDER, 1614 auf der schleswig-holsteinischen Ostseeinsel Fehmarn geboren, war 1632-41 Organist am Gottorper Hof. Hier pflegte er engen Verkehr mit einem Schüler des großen italienischen Orgelmeisters Girolamo Frescobaldi, dessen Kunst für ihn als Orgelkomponisten wie als Orgelspieler von großer Bedeutung wurde. Wie später Johann Sebastian Bach, so nahm auch Tunder begierig die Anregungen auf, die ihm eine hochentwickelte ausländische Musik bot, um sie dann in seiner Art zu verarbeiten und etwas Neues, typisch Deutsches zu schaffen. So wurde Tunder zum Begründer der norddeutschen Organistenschule, die, von Buxtehude zu absolutem Höhepunkt gebracht, auch für Bach von großer Bedeutung wurde. 1641 wurde Tunder als Organist an die Marienkirche nach Lübeck berufen. Hier widmete er sich, neben seinen gottesdienstlichen Aufgaben und der Komposition von Kantaten für die auf dem Lettner aufgeführte Sonn- und Festtagsmusik des Kantors, vor allem dem Ausbau der „Abendmusiken". Durch die Mitwirkung einzelner Instrumental- und Gesangssolisten wurde ausden - ursprünglich nur von der Orgel bestrittenen - „Abendspielen" der Anfang des späteren Kirchenkonzerts, einer außerhalb des Gottesdienstes liegenden kirchenmusikalischen Veranstaltung, bei der man auf instrumentalem Gebiet keine scharfe Grenze zwischen kirchlích gebundener und weltlicher Musik zog. So war schon bei Franz Tunder das kompositorische Schaffen sehr vielseitig, wovon seine zahlreichen Werke Zeugnis ablegen. Er starb am 5. November 1667 und vererbte sein Amt an seinen Schwiegersohn DIETRICH BUXTEHUDE.
Dieser wurde als Sohn des Organisten Johannes Buxtehude 1637 in Oldesloe geboren. Sein Vater ging wenige Jahre später in gleicher Stellung nach Helsingborg und Helsingör; das war keine Auswanderung ins Ausland, war doch Holstein damals mit Dänemark nicht nur staatspolitisch, sondern auch auf dem Gebiet der Musikpflege schon seit den Zeiten von Heinrich Schütz eng verbunden. Über die Jugend- und Studienjahre Buxtehudes fehlen genaue Nachrichten; bekannt ist nur, daß er mit etwa 20 Jahren Organist an St. Marien in Helsingborg war und seit 1660 als Organist der Deutschen Kirche in Helsingör wirkte. Es darf angenommen werden, daß Buxtehude schon vor dem Tode Tunders nach Lübeck kam, in der zweiten Tochter Tunders seine zukünftige Frau und in der Orgelbank der Lübecker Marienkirche seine zukünftige Wirkungsstätte sah. Fünf Monate nach Tunders Ableben, am 11. April 1668, wurde er zum Marienorganisten gewählt; am 5. August des gleichen Jahres, wenige Tage nachdem ihm das Bürgerrecht in Lübeck verliehen worden war, fand die Hochzeit mit Anna Margareta Tunder statt. - Buxtehude setzte das Werk Tunders als Orgelkomponist und Orgelspieler, als Komponist von Vokal- und Kammermusikwerken sowie als Organisator der Abendmusiken großartig fort. Zunächst verhütete er die vom Kirchenvorstand beabsichtigte Abschaffung der Abendmusiken und verlegte sie vom Donnerstagabend auf den Sonntagnachmittag. Dann zog er sehr bald Chor und Orchester zur Mitwirkung heran, was nach dem Bau von neuen Emporen möglich wurde. Das Wort „Abendmusik" verwendete Buxtehude selbst in doppelter Bedeutung: zunächst war damit das Konzert als Veranstaltung gemeint, dann aber - in einem Brief von 1689 - sprach er von der „Abendmusik vom verlohrenen Sohn". Hier bezeichnet das Wort „Abendmusik" eine ganz bestimmte, nur in Lübecks Marienkirche gepflegte Sonderform des mehrteiligen Oratoriums, dessen einzelne Teile oder „Vorstellungen“ an den verschiedenen Aufführungs-Sonntagen „präsentieret" wurden Im Lauf von etwa 35 Jahren entstanden zahlreiche zwei- bis fünfteilige Werke, die fast alle - mit Ausnahme verschiedener Titel, eines Textbuches und nur einer vollständigen Musik („Das Jüngste Gericht") - verschollen sind. Aus einem weiteren Textbuch sowie aus vereinzelten Briefstellen und Berichten Buxtehudes sehen wir, daß nicht jedes Jahr eine große, in sich geschlossene „Abendmusik" aufgeführt werden konnte, sondern daß der Meister auch gemischte Programme - ähnlich wie das auf der vorliegenden Schallplatte - in seinen Abendmusiken musizierte., Daß er dabei auch Werke seines Schwiegervaters und seines Lieblingsschülers aufführte, ist zwar nicht verbürgt, aber durchaus möglich. 1707, zwei Jahre nachdem der zwanzigjährige Bach von Arnstadt nach Lübeck gepilgert war, um von dem großen Meister des Nordens zu lernen, starb Dietrich Buxtehude, der genialste Musiker und Komponist, der je in Lübecks Marienkirche gewirkt hat.
NICOLAUS BRUHNS stammte aus einem alten norddeutschen Musikergeschlecht; seinen Großvater treffen wir als Lautenist unter den Mitwirkenden bei den Abendmusiken Franz Tunders. Nicolaus wurde1665 in Schwabstedt bei Husum geboren. Zunächst von seinem Vater ausgebildet, kam er 1681 nach Lübeck und wurde Schüler Buxtehudes. Seine späteren Wanderjahre führten ihn nach Kopenhagen. 1689 wurde er nach glänzendem Probespiel als Organist an den Domgzu Husum berufen. Noch im gleichen Jahr gab es einen heftigen Streit zwischen den Städten Kiel und Husum um den hochgeschätzten Organisten, der nicht abgeneigt war, die Husumer Orgelbank mit der der Kieler Nikolaikirche zu vertauschen, schließlich aber doch in Husum blieb. Von all seinen Mitarbeitern, Kantoren, Ratsmusikanten, von kunstverständigen Pfarrern und einem wohlgesinnten Rat der Stadt verehrt und unterstützt, entfaltete Bruhns in Husum, eine segensreiche Tätigkeit. „Leider aber währte diese Freude nicht lange, indem ihn der Tod schon im 31. Lebensjahr hinwegraffte, von jedermann bedauret, daß ein solcher trefflicher Meister in seiner Profession, auch vertragsamer Mann, nicht länger leben sollen."
WILLY MAXTON

Ein Kirchenkonzert anno 1700
Franz Tunder Sinfonia à 7 viole
„Diese Sinfonia ist gesetzt für ein Muttedt (Motette) Da pacem Domine." So heißt es in der Vorlage der Universitätsbibliothek Uppsala. „Sinfonia" ist in der vorbachschen Zeit nichts anderes als ein oft nur wenige Takte langes Instrumentalstück zur Einleitung eines Vokalwerks oder eines neuen Abschnitts. Wird der Bogen, wie in unserm Fall, weiter gespannt, dann begegnen wir oft der dreiteiligen Form. Eine langsame Einleitung im geraden Takt (2/2, 4/2 oder 4/4) - hier 18 Takte -, ein schneller Mittelteil im 3/2-Takt (30 Takte) und ein kurzer, nur fünf Takte langer Schlußteil, wieder im langsamen geraden Takt, bilden ein einheitliches Ganzes. Im kunstreichen Satz für sieben (!) reale Stimmen, die von Gamben musiziert werden, erzielt Tunder einen überaus satten Klang, der zweifellos dem Text der ursprünglich folgenden - leider verschollenen - Motette „Gib Frieden, Herr" eine musikalische Deutung geben sollte. Man beachte im Mittelteil die in der Barockmusik so beliebten Echowirkungen.
Dietrich Buxtehude - laudate, pueri (Psalm 112)
In diesem „Kleinen geistlichen Konzert", um mit Heinrich Schütz zu sprechen, begegnen wir dem gleichen satten und dabei doch so durchsichtigen Gambenklang diesmal von sechs realen instrumentalstimmen, zu denen die beiden Vokalsolisten gleichsam wie ein zweiter Chor hinzutreten, häufig nur von der kleinen Orgel (Positiv) und Theorbe - einer großen Laute mit bis zu acht Baßsaiten und sechs Griffsaiten - begleitet. Eine achttaktige Sinfonia umrahmt das Werk und erklingt in ihren ersten vier Takten noch einmal, ehe die kleine Doxologie, das „Gloria patri", den Psalm zum Abschluß bringt. Die Instrumente begleiten nicht einfach, sie singen vielmehr den Text nach - oder auch vor - und erheben sich so zum gleichberechtigten Partner der Vokalisten.
Dietrich Buxtehude Mein Herz ist bereit (Psalm 57, V. 8-12)
Dieses deutsche Psalmkonzert ist ein prachtvolles Gegenstück zu „Laudate, pueri": Das Ziel - die musikalische Deutung des Textes - ist das gleiche, ebenso der Stil, den der Komponist anwendet. Ganz anders sind jedoch die Mittel. Anstelle der altertümlichen Gamben erklingen die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer stärker hervortretenden Violinen. An die Stelle der zwei Solosoprane tritt ein Baßsolist. Die Doxologie - in der evangelischen Kirchenmusik nicht unbedingt gefordert - ist vom Komponisten in diesem Werk weggelassen. Die einleitende Sinfonia - hier von Buxtehude als Sonata bezeichnet - ist dreiteilig: Adagio 2/2, Allegro 6/4, Adagio 2/2.
Dietrich Buxtehude - Prtiludium und Fuge g-mall für Orgel
Daß Buxtehude in den Abendmusiken die Orgel auch solistisch erklingen ließ, ist nirgends überliefert. Es wäre aber wohl unrichtig, wollte man annehmen, daß der größte Orgelmeister vor Johann Sebastian Bach sich in den Abendmusiken - zumal wenn es sich um gemischte Programme handelte - nicht auch als Orgelvirtuose hören ließ; es ist durchaus möglich, daß ein Orgelsolo so selbstverständlich war, daß es an keiner Stelle erwähnt wurde. Das g-moll-Werk zeigt uns den ganzen Phantasiereichtum des Lübecker Meisters. Wo Bach in den Orgelpräludien gewaltige Bögen spannt, überrascht Buxtehude immer wíeder durch kleinere neue Abschnitte, deren Kontraste ein überaus farbenprächtiges Bild geben. Einstimmig, toccatenhaft beginnt das Präludium. Bald gesellt sich eine zweite Manualstimme im gleichen Sechzehntel-Rhythmus dazu, bis nach sechs Takten im Pedal ein immer wiedetkehrendes ostinates Baßthema von sieben Viertelnoten mächtig aufklingt. Aus diesem wird dann ein Fugenthema entwickelt, das den zweiten Abschnitt bildet. Ein kurzes, wieder ganz toccatenartiges Allegro, der dritte Abschnitt, ist sehr prägnant zweiteilig gegliedert. Der. vierte, letzte und größte Abschnitt ist wieder eine Fuge, Largo 3/2-Takt, die in eine wiederum toccatenartige Coda mündet. Bach übernahm diese Form in seinen frühen Klavier-Toccaten.
Franz Tunder - Ach Herr, laß deine lieben Engelein
In diesem Werk begegnen wir einem Choral-Konzert über die dritte Strophe des Liedes „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr". Zwei faktoren sind es, die den Aufbau bestimmen: ein musikalischer und ein textlicher. Das konzertierende Element mit je einer Sinfonla zu Beginn und in der Mitte, mit Orchester-Zwischenspielen, kontrastreichen Takt- und Tempowechseln, Koloraturen und Melodie-Varianten in der Singstimme steht ganz im Dienst der für Tunder und Buxtehude typischen Textauslegung, die nicht so sehr die Choralstrophe als Ganzes behandelt (wie es später bei Bach der Fall ist), sondern vielmehr dem geistigen Gehalt ihrer einzelnen Textteile nachgeht. Es wäre völlig abwegig zu fragen, welche Art der Auslegung die bessere sei. Schätzen wir uns glücklich, daß die Lübecker Meister es anders machten als der Leipziger Thomaskantor!
Dietrich Buxtehude - Orgelchoral „Ach Herr, mich armen Sünder"
Dieser kurze Orgelchoral à zwei Claviere und Pedal bringt die Melodie - den meisten Hörern unter dem Text „O Haupt voll Blut und Wunden" bekannt - auf einem besonderen Manual in der Oberstimme. Sie erklingt zunächst in ihren Grundnoten, um dann durch melismatische Umspielung zu tiefer subjektiver Ausdruckskraft vorzustoßen. Die beiden Mittelstimmen - auf einem zweiten Manual mit der linken Hand gespielt - und der Baß verarbeiten gelegentlich fugiert die Kopfmotive der einzelnen Choralzeilen in kurzen Vor- bzw. Zwischenspielen und geben so nicht nur eine schlichte Begleitung, sondern darüber hinaus einen fast selbständigen sehr eindrucksvollen Zusammenklang. Wir hören dieses Werk, wie auch das g-moll-Präludíum, auf der kleinen Lübecker Jakobi-Orgel, auf der vermutlich schon gastweise Franz Tunder, Dietrich Buxtehude und der 20-jährige Bach gespielt haben.
Nicolaus Bruhns - Ich liege und schlafe (Psalm 4, V. 9)
Während in den drei ersten Vokalkonzerten unserer Reihe nur Bibeltext oder Kirchenlied vertont ist, tritt in diesem Werk als Neuerung des 17. Jahrhunderts die zeitgenössische freie Dichtung zum Bibelwort. Es handelt sich dabei um die Kompositionsgattung der „Musikalischen Andacht", bei der ein kurzer Bibeltext meist in motettischer Form für Chor komponiert wird. Dieser erste und wichtigste Satz des ganzen Werkes - oft von einer Sinfonia eingeleitet - wird am Schluß wiederholt. Den Mittelteil bilden liedmäßige Solostücke oder Duette mit Ritornell, in dem jede der Chorstimmen des Eingangsstücks einmal den Solisten stellt. Der Text dieser Soloeinlagen deutet den Bibeltext des Chores. In unserem Beispiel wird das schlichte Abendlied des Psalmisten zum Sterbegesang (vielleicht für eine Begräbnisfeier?) umgedeutet. Der Komponist gliedert den Psalmvers in drei klar erkennbare Teile: „Ich liege und schlafe" Adagio 4/4 Takt), „ganz in Frieden" (Allegro 3/2 Takt), „denn du allein, Herr, hilfest mir" (Allegro 4/4 Takt), wobei das letzte Allegro sich nach sieben Takten zu einem regelrechten Fugato entwickelt. Bruhns führt hier nur die beiden Bratschen und den Instrumentalbaß (Violoncello und Violone) unisono mit den Chorstimmen, während die beiden Violinen selbständige Stimmen spielen, so die Vierstimmigkeit zur Sechsstimmigkeit erweiternd.
WILLY MAXTON

Die alten Lübecker Orgeln
Als die „Keyserlike Stadt Lübeck" in der Mitte des 17. Jahrhunderts mit dem Marienorganisten Franz Tunder ihren eigentlichen Eintritt in die Geschichte der evangelischen Kirchenmusik vollzog, besaß sie in ihren fünf gotischen Hauptkirchen eine so große Zahl von hervorragenden Orgeln, daß sie schon damals den späteren Beinamen „Stadt der Orgeln" verdient gehabt hätte. Nachdem dann zu des Großmeisters Dietrich Buxtehude Zeiten der berühmte Hamburger Orgelbauer Arp Schnitger für den Lübecker Dom wieder eine große Orgel gebaut hatte, verfügten alle Hauptkirchen außer St. Aegidien über je zwei Instrumente, wobei die „kleinen“ Orgeln, von St. Marien und St. Jakobi beachtlicherweise auch dreimanualig waren. Wenn man bedenkt, daß die Entstehung dieser Instrumente ausnahmslos in das „klassische“ Zeitalter der norddeutschen Orgelbaukunst fällt, welches von der Spätgotik bis in das ausklingende Barock reicht, daß ferner neben Schnitger so hervorragende Meister wie z. B. Jakob und Hans Scherer sowie Friedrich Stellwagen in den Lübecker Kirchen gearbeitet haben, so wird man ermessen können, welchen unvergleichlichen Reichtum die „Stadt mit den goldenen Türmen" in ihren Mauern barg, und auch von daher begreifen, daß Johann Sebastian Bach im Winter 1705/06, seinen Urlaub eigenmächtig um ein Vielfaches überschreitend, noch viele Wochen nach Beendigung der berühmten Lübecker Abendmusiken bei Buxtehude verweilte. Hatte schon keine Stadt damals einen als Komponisten und Orgelmeister gleich großen Lehrmeister wie diesen aufzuweisen, so konnte ebensowenig irgendein anderer Platz einen so unerschöpflichen Schatz an wunderbaren Orgeln bieten.
Bekanntlich konnte die Orgelkunst aus Gründen, die letztlich mit dem mächtigen Aufschwung der weltlichen Musikpflege und der allgemeinen Säkularisierung zusammenhängen, in den Epochen des Rokokos, der Klassik und der Romantik die mit den alten Meistern und Bach erreichte Höhe und Strahlungskraft nicht halten und vermochte sich auch die Stilelemente der jeweils neuen Musiksprache nicht wirklich zu eigen zu machen. Daher versiegte auch im Orgelbau mehr und mehr die innere Kraft, um bei gesteigerten technischen Fähigkeiten noch wirklich neuartige und eigenständige Orgeln schaffen zu können.
Gleichwohl blieb Lübeck in mehr als einer Hinsicht bis in den letzten Krieg hinein und sogar, wenn nun auch mit schmerzlichsten Einbußen, bis in die jüngste Gegenwart eine „Stadt der OrgeIn". Ehe die Brandfackel des Bombenkrieges das Innere von dreien der fünf Hauptkirchen in Schutt und Asche legte, konnte man in jeder von ihnen noch die herrlich geschnitzten, mit Intarsien und Malereien reich verzierten alten Orgelfassaden bewundern, die auch für sich genommen in der allgemeinen Kunstgeschichte Bedeutung erlangt haben, hinter denen freilich das altehrwürdige Pfeifenwerk zum größten Teil durch neue, handwerklich meistens vorzüglich gearbeitete Register ersetzt worden war. Auch die nach dem Schleifladensystem gebauten alten Spieleinrichtungen hatten vielfach vermeintlich besseren, neuartigen Mechaniken weichen müssen. Immerhin aber waren die Totentanz-Orgel in der Marienkirche und die „Kleine Orgel" in St. Jakobi in ihrem ursprünglichen Zustand fast gänzlich unversehrt geblieben; und auch die Hauptorgel der Jakobikirche wies noch eine ganze Reihe von Jahrhunderte alten Registern auf. Schließlich wasen die Dom-Orgel - nächst der 1854 erbauten viermanualigen Hauptorgel der Marienkirche die größte Lübecks - und die Orgel der Petrikirche in den dreißiger Jahren, den Erkenntnissen der Orgelbewegung zufolge, mit mehreren dem barocken Vorbild nachgebauten Registern wieder heller, durchsichtiger und farbiger gemacht worden, und die Aegidienkirche hatte sogar eine ganz nach den Grundsätzen der alten Orgelbaukunst gestaltete, neue, dreimanualige Orgel erhalten. In den Kreis dieser Instrumente war 1937 noch ein aus Ostpreußen stammendes, dort 1723 als Hausorgel gebautes Positiv getreten, welches jetzt seinen Platz in der Briefkapelle der Marienkirche hat.
Den letzten Weltkrieg aber konnten - von diesem Positiv und von der Aegidien-Orgel abgesehen - nur die beiden Instrumente der Jakobikirche überdauern; und hierbei ist besonders die Erhaltung der „Kleinen Orgel" von geradezu unschätzbarem Wert. Ist sie doch nicht nur das nunmehr einzige lübeckische historisch unveränderte „Instrumentum" für die gesamte vorbachische Orgelkunst, sondern zugleich eine der schönsten und berühmtesten alten Orgeln überhaupt. Ihre kräftigen und doch gänzlich unauidringlichen, in sich selbst so farbenreichen Prinzipalregister mitsamt den silbrig leuchtenden Mixturen, ihre Gedackte, Quintaden und Rohrflöten mit der wohl einzigartigen Oktavzimbel des Brustwerks und dem glitzernden vierfachen Scharf des Rückpositivs, ihre barocken Zungenregister, deren Namen schon - wie Regal und Schalmei, Krummhorn und Trechterregal, Trompete und Posaune - eine Vorahnung von ihrer zauberhaften und reizvollen Klangwelt vermitteln: dies alles ist nahezu genau so auf unsere Gegenwart überkommen, wie es die Meisterhände in längstversunkener Zeit geschaffen haben.
In der Geschichte dieser Orgel spiegelt sich ihr Wesen und ihre Bedeutung wider. Der älteste Teil, das Hauptwerk mit seinen zehn Registern, zusammen mit dem aus vier Registern bestehenden Pedal, entstand um 1480 als einmanualige Chororgel für die Stundengottesdienste der Kleriker. Diese hatte bald danach, mit der Einführung der Reformation, ihre liturgische Funktion und damit eigentlich ihren Daseinszweck eingebüßt; Aber obwohl „keine Nachrichtung" vorlag, „daß sie in hundert Jahren gehört" worden sei, erhielt sie auf Grund einer privaten Stiftung im Jahre 1637, also mitten im Dreißigjährigen Kriege, ein Brustwerk mit sechs und ein Rückpositiv mit neun Registern und war damit zu einem vollständigen dreimanualigen Orgelwerk geworden. Da sich in der Folgezeit das ganze Interesse des Presbyteriums auf die Instandhaltung und jeweilige „Modernisierung" der Hauptorgel richten mußte, versank die Kleine Orgel sozusagen in einen mehrhundertjährigen Dornröschenschlaf und blieb von den Veränderungen der Orgelbaukunst unberührt. Zwar finden wir sie in den Kirchenrechnungsbüchern immer wieder aufgeführt; doch sind die an ihr vorgenommenen Arbeiten immer nur dazu bestimmt, sie für die Zeiten größerer Reparaturen dn der Hauptorgel als Aushilfsínstrument spielbar zu machen, und greifen in keiner Weise in ihre innere Struktur ein.
Somit fand die deutsche Orgelbewegung bei der denkwürdigen Orgeltagung in Hamburg und Lübeck im Sommer 1925 die Kleine Jakobi-Orgel als ein Werk vor, das wie nur wenige andere seinen originalen Charakter bewahrt hatte und daher für die Wiedererweckung der altmeisterlichen Orgelmusik wie für den neuen Weg der Orgelkunst überhaupt richtungweisend wurde. Die seither an diesem Instrument vorgenommenen Arbeiten dienten - abgesehen von den Erweiterungen des schon für die Buxtehudische Zeit unzulänglich besetzten Pedals - lediglich der Erhaltung, Sicherung und Restaurierung dieses einzigartigen Kleinods, welches nach seiner Wiedererweckung in zahllosen Gottesdiensten, Abendmusiken und Rundfunksendungen „zur Ehre Gottes und zur Recreation des Gemütes” erklungen ist.
JOHANNES BRENNEKE
(Columbia C 91 112)