MUSIK IN ALTEN STÄDTEN UND RESIDENZEN


1 LP - C 91 114 - (p) 196_

LUDWIGSBURG - Am Hofe des Herzogs Karl Eugen von Württemberg






Johann Florian Deller (1729-1773) Suite aus dem Ballett "Orfeo ed Euridice" (1763) - in DDT Band 43/44, heraugegeben von H. Abert, Leipzig 1913

17' 26" A1

- Sinfonia (Allegro assai) · Larghetto · Adagio · Adagio-Rondo · Allegro-Andante-Allegro · Chaconne




Consortium musicum
Helmut Hucke, Oboe | Walter Thoene, Cembalo




Niccolò Jommelli (1714-1774)
Misera! Ea chi pietade non fariano i miei casi? spargero d'amare lagrime - in DDT Band 32/33, herausgegeben von H. abert, Leipzig 1907
11' 13" A2

Rezitativ und arie der Libya aus der Oper "Fetonte" (1753 [68])




Edith Mathis, Sopran | Südwestdeutsches Kammerorchester | Wolfgang Gönnenwein, Dirigent


Johann Rudolf Zumsteeg (1760-1802) Konzert für Violoncello und Orchester Es-dur - (Manuskript)
24' 38"

- Allegro
10' 34"
B1

- Adagio 6' 53"
B2

- Allegro vivace 7' 11"
B3

Alfred Lessing, Violoncello | Consortium musicum






 
Interpreters (see above).

 






Luogo e data di registrazione
-

Registrazione: live / studio
studio

Producer / Engineer
Fritz Ganss / Gerd Berg / Christfried Bickenbach / Horst Lindner

Prima Edizione LP
Columbia - C 91 114 - (1 LP) - durata 53' 17" - (p) 196_ - Analogico

Altre edizoni LP

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Edizioni CD
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Cover
Entwurf des Hofbaumeisters D. G. Frisoni für die Terrassenanlagen und die nach Norden gerichtete Fassade des Ludwigsburger Schlosses. In Kupfer gestochen von Joh. Aug. Corvinus, erschienen im August 1727.












Der Ludwigsburger Hof des Herzogs Karl Eugen von Württemberg
Den Höhepunkt in der Musik- und Theatergeschichte Ludwigsburgs und seines Schlosses (des größten deutschen Barockschlosses) bilden die elf Jahre von 1764 bis 1775, in denen Herzog Karl Eugen in Ludwigsburg Hof hielt. Streitigkeiten mit den Ständen in Stuttgart und eine zeitlebens bestehende besondere Vorliebe für das Schloß Ludwigsburg, in dessen Kapelle er mit zehn Jahren zum Malteser Ritter geschlagen worden war, hatten zur Verlegung der Residenz von Stuttgart nach Ludwigsburg geführt. „Am 2. September war der so glückliche Tag vor Ludwigsburg, an welchem Serenissimus ob der Mittagstafel sich zu äußern gnädigst geruhten, daß von nun an und künftig Sommer und Winter der Hof und Miliz allhier verbleiben und Ludwigsburg eine beständige Residenz seyn solle", heißt es in einer alten Chronik.
In Karl Eugen sieht man häufig nur den gewalttätigen, prunksüchtigen und verschwenderischen Despoten, der Schubart auf dem Asperg gefangen hielt und vor dem Schiller ins Ausland flüchtete; man sollte aber nicht vergessen, daß er auch eine ausgesprochen künstlerische Persönlichkeit war: er besaß eine ungewöhnlich hohe musikalische Bildung, war ein geschulter Cembalíst und ein gewandter Partiturspieler, der nicht selten den Cembalopart oder gar die Leitung des Orchesters selbst übernahm. Häufig erschien er bei den Theaterproben und prüfte kritisch nicht nur Gesang, Orchester und Tanz, sondern auch die Instrumente, das Bühnenbild und die Kostüme. Die Strömungen und Entwicklungen im zeitgenössischen Musik- und Theaterleben verfolgte er sehr aufmerksam und mit großem Verständnis. Zwei Anstöße von außen machten ihn schließlich zum Schöpfer eines in ganz Europa Aufsehen erregenden musischen Hofes: einmal die Vermählung mit Friederike von Brandenburg-Bayreuth, an deren elterlichem Hofe in Bayreuth er den ganzen Glanz der italienischen Oper kennen und gleich ihr schätzen gelernt hatte; zum andern ein längerer Aufenthalt am Hofe Ludwigs XV. in Paris, bei dem er die Bedeutung des chorischen und tänzerischen Elementes in der französischen Oper erkannte, was ihn später in Ludwigsburg zur Aufnahme dieser Elemente in die italienische Oper veranlaßte. Auch die Vorliebe für das französische Lustspiel und die Berufung eines ständigen französischen Komödien-Ensembles nach Ludwigsburg hängen mit den Pariser Eindrücken zusammen. So ist Karl Eugen zum geistigen Urheber einer unerhörten künstlerischen Entwicklung in Ludwigsburg geworden, denn nicht nur in den elf Jahren seiner Hofhaltung in Ludwigsburg, sondern auch lange vorher und nachher spielte sich ein wesentlicher Teil des württembergischen Musik- und Theaterlebens im Ludwigsburger Schloß und seinen prächtigen Garten- und Parkanlagen ab.
Der Mann, der wesentlich beigetragen hat zum strahlenden Glanz und zum europäischen Ruhm des Ludwigsburger Hofes Karl Eugens, war Niccolo Jommelli, einer der bedeutendsten italienischen Musikdramatiker des 18. Jahrhunderts. Er wurde 1714 (im selben Jahr wie Gluck) in Aversa bei Neapel geboren und am Konservatorium in Neapel ausgebildet, war dort nach dem Studium zunächst Gesangslehrer und ging dann nach Rom. Nach weiterer vorübergehender Tätigkeit in Bologna, Venedig und Wien (wo er sich mit dem Dichter Metastasio befreundete) wurde er mit 33 Jahren Direktor des Konservatoriums in Venedig; zwei Jahre später erhielt er das Amt des Vizekapellmeisters an der Peterskirche in Rom. Dort lernte ihn im Frühjahr 1753 Herzog Karl Eugen, der sich mit seiner Gemahlin auf einer Italienreise befand, persönlich kennen. Der Herzog war von Jommelli stark beeindruckt und beauftragte ihn, für den Geburtstag seiner Gemahlin am 30. August die Festoper zu schreiben und die Aufführung persönlich zu leiten. Am 10. August 1753 kam Jommelli am württembergischen Hofe an, und bereits am 21. November dieses Jahres erfolgte seine feste Anstellung als Oberkapellmeister. Sein Einkommen belief sich in den Ludwigsburger Jahren auf 6100 Gulden nebst je einer Dienstwohnung in Ludwigsburg und Stuttgart; außerdem bekam er vom Herzog für jede neue Oper eine mit 100 Dukaten gefüllte goldene Tabatière. Er hatte also ein für die damalige Zeit geradezu fürstliches Einkommen.
Jommellis Wirkungskreis umfaßte allerdings das gesamte Musikleben am Hofe Karl Eugens. Er war nicht nur Oberkapellmeister für die Oper, sondern auch Musikdirektor für die gesamte katholische und protestantische Kirchenmusik. Daher komponierte und dirigierte er nicht nur Opern, sondern auch zahlreiche Kirchenmusikwerke. Karl Eugen verlieh Jommelli allmählich eine Machtfülle, der sich sonst kaum ein Italiener an einem deutschen Hofe rühmen konnte. In allen Fragen der Musik und des Theaters konnte überhaupt nichts ohne ihn geschehen. Daß Jommelli diese Machtfülle nicht zu seinem persönlichen Vorteil ausnützte, sondern immer nur das sachliche Ziel im Auge hatte, spricht für seine menschliche Größe. Sein Ideal war die harmonische Vereinigung von Orchester, Sängern, Tänzern und Ausstattung zu einem „Gesamtkunstwerk", und diesem Ideal ordnete er alles unter. Schubart sagt über ihn als Operndirigenten: „Er kannte die Sänger, das Orchester, die Hörer mit ihren Launen, selbst den Ort, wo er seine Opern aufführte, nach den Wirkungen des Schalls, und schmolz sie durch die genauesten Verabredungen mit Maschinist, Dekorateur und Ballettmeister in ein großes Ganzes zusammen, das des kältesten Hörers Herz und Geist erschütterte und himmelan lüpfte."
Karl Eugens und Jommellis Hauptsorge galt von Anfang an der Vergrößerung und Verbesserung des Orchesters. Sie erreichten, daß dieses Orchester bald als eines der besten in ganz Europa anerkannt wurde. 1755 bestand es noch aus 24 Mitgliedern, 1767 in Ludwigsburg bereits aus 47, zu denen noch 2 Hofpauker und 6,Militärtrompeter kamen; schließlich hatte es mehr als 60 festangestellte Mitglieder. Unter diesen befanden sich Virtuosen ersten Ranges wie Antonio Lolli und Pietro Nardini, der von Leopold Mozart besonders geschätzte bedeutendste Schüler Tartinis, von dem Schubart einmal sagte: „Man hat eiskalte Fürsten und Hofdamen weinen gesehen, wenn Nardini ein Adagio spielte".
Auch auf allen andern Gebieten hatte Jommelli erstklassige Mitarbeiter: sein Ballettmeister war der von Berlin und Paris kommende Jean Georges Noverre, sein Bühnenbildner der bedeutende Maler Innozenz Colombo und sein Ballett-komponist der Niederösterreicher Johann Florian Deller, der in Ludwigsburg von 1764 bis 1771 der Hofkapelle Karl Eugens als Geiger und Ballettkomponist angehörte. Deller war ein persönlicher Freund Schubarts; beide waren unstete Feuerköpfe, denen der Hang zum Unbürgerlichen und Abenteuerlichen und die innere Ablehnung von Zwang und Enge gemeinsam waren. Dellers Meisterwerk ist die Musik zu Noverres Ballett „Orpheus und Euridice". Dieses Ballett wurde am 11. Februar 1763, dem Geburtstag Karl Eugens, in Ludwigsburg uraufgeführt und in der Folgezeit häufig im Ludwigsburger Opernhaus wiederholt.
In den Kreis der Musiker am Hof Karl Eugens gehört auch der aus dem Odenwald stammende Johann Rudolf Zumsteeg. Der Stellung seines Vaters als Kammerdiener bei Karl Eugen verdankt er die Aufnahme in die Hohe Karlsschule, wo ihn eine herzliche Freundschaft mit Schiller verband. In die Musikgeschichte ist er als Lieder- und Balladenkomponist eingegangen; er hat aber auch Opern (Die Geisterinsel), Kirchenkantaten und Cellokonzerte komponiert. Im Orchester Karl Eugens, mit dem er oft nach Ludwigsburg kam,war er längere Zeit Solocellist und von 1792 an Hofkapellmeister. Das Cello-Konzert Es-dur hat er für eines der berühmten Feste am Hofe Karl Eugens komponiert.
In die Zeit der Ludwigsburger Hofhaltung Karl Eugens fällt auch der Besuch Mozarts. Auf der ersten Pariser Reise war Leopold Mozart mit dem siebeneinhalbjährigen Wolfgang Amadeus und dem zwölfjährigen Nannerl vom 9. bis 12. Juli 1763 in Ludwigsburg. Leider kam es nicht zum Vorspiel vor Karl Eugen, da der Herzog gerade zu einer mehrwöchigen Jagdreise aufbrechen wollte. Doch wurden die Mozarts von Jommelli empfangen, der nach dem Klavierspiel des kleinen Wolfgang Amadeus betroffen meinte, „daß es zu verwundern und kaum glaublich sei, daß ein Kind teutscher Geburt so ein Musik-Genie und so viel Geist und Feuer haben könne".
Besonders interessant waren zur Zeit Karl Eugens auch die Beziehungen von Ludwigsburg zu Mannheim, dem benachbarten Musikzentrum von europäischem Rang. Der Mannheimer Hofkapellmeister Ignas Holzbauer war der Vorgänger Jommellis am Hof Karl Eugens; der Mannheimer Komponist und Musikdirektor Cannabich war in Italien Jommellis Schüler gewesen; der Mannheimer Johann Stamitz hatte von Karl Eugen eine Berufung an den württembergischen Hof erhalten, und Jommelli hatte sich 1753 um die Kapellmeisterstelle am Hofe Karl Theodors in Mannheim beworben - fast wäre die Musikgeschichte in umgekehrter Richtung verlaufen. Karl Eugen war sich der großen Bedeutung des schöpferischen Mannheimer Musiklebens wohl bewußt; umgekehrt wurden in Mannheim viele Werke Jommellis aufgeführt.
Mit dem Tode Karl Eugens erlosch das große Musik- und Theaterleben im Ludwigsburger Schloß; erst in der Gegenwart lassen die „Festlichen Sommerspiele Schloß Ludwigsburg" wieder etwas vom alten Glanz aufleuchten.
Prof. Wilhelm Krämer

Jean Georges Noverre - der Reformator des Tanzes
Zu den künstlerischen Vorständen des Württembergischen Hoftheaters unter Herzog Karl Eugen gehörte, gleichzeitig mit den Kapellmeistern Jommelli, Deller, Rudolf und dem damals hochberühmten Bühnenbildner Boquet, acht Jahre lang als Maître de ballet Jean Georges Noverre, der als Tänzer und Choreograph in seinem langen Leben höchsten Ruhm und tiefsten Hass bis zur Neige kostete und nach seinem Tode in völliger Vergessenheit als Erneuerer der Tanzkunst Unsterblichkeit gewann.
Noverre wurde am 27. April 1727 geboren. Der Ort seiner Geburt ist nicht zuverlässig überliefert. Schon mit 6 Jahren wurde Noverre in Paris Schüler Louis Dupré's, eines der berühmtesten Tänzer seiner Zeit, und debutierte sechzehnjährig am königlichen Hofe, der Uberlieferung nach mit nur mäßigem Erfolg. Bald darauf nahm er ein Engagement an den Hof des Prinzen Heinrichs von Preußen in Potsdam an, von wo er jedoch der Knauserigkeit seines fürstlichen Brotherrn wegen schon bald nach Paris zurückkehrte, nicht ohne die besondere Gunst König Friedrichs II. gefunden und den überschwenglichen Lobpreis Voltaire's geerntet zu haben, der Noverre als den von alters erwarteten Genius des Tanzes bezeichnete.
In Paris wurde der zwanzigjährige Noverre vom Direktor der Komischen Oper, Monnet, als Maître de ballet verpflichtet, wo er 1754 den von Monnet überlieferten ersten außerordentlichen Erfolg errang. Es war seine Choreographie des Balletts „Fêtes Chinoises" in der Ausstattung durch Francois Boucher. Der Erfolg muß in der Tat überwältigend gewesen sein, denn Monnet berichtet, daß damals jeder, der in kultureller Hinsicht auf sich hielt, das Ballett gesehen haben mußte. Noverre allerdings lehnte später sein eigenes Werk als „flüchtige Flause" ab. Aber sein Ruf war nun so bedeutend, daß der große englische Schauspieler David Garrick den „Shakespeare des Tanzes", wie er Noverre nannte, mitsamt seinem Corps de ballet nach London ans Drury Lane Theater berief. Doch die bald darauf ausbrechenden englisch-französischen Feindseligkeiten ließen die Truppe nach kurzer Zeit nach Paris zurückkehren.
Zwar war Noverre's europäischer Ruhm als Choreograph gegründet, aber seinem einzigen Lebensziel, nämlich an die Große Oper verpflichtet zu werden, wurden trotz der hohen Protektion der Mme de Pompudour durch die Intrigen der vom Tänzer-König Ludwig XlV. gegründeten Académie Royale Hindernisse entgegengesetzt, die für Noverre 30 Jahre lang unüberwindlich bleiben sollten.
Verbittert nahm Noverre 1758 ein Engagement nach Lyon an, wo er auch seine berühmten, zum theoretischen Standardwerk des Tanzes gewordenen „Lettres sur la Danse et sur les Ballets" schrieb. Als sie in Paris erschienen und kaum anders als ein Erdbeben wirkten, war ihr Verfasser schon unterwegs nach Stuttgart, wohin ihn der Herzog Karl Eugen von Württemberg berufen hatte.
Das Stuttgarter Theater war damals eine der bedeutendsten Bühnen Europas, und das neue Engagement für Noverre außerordentlich vorteilhaft. Die künstlerischen Bedingungen unter denen er dort arbeitete, waren vorzüglich: er leitete ein Corps de ballet von 100 Tänzern und Tänzerinnen, dazu ein Ensemble von 20 Solotänzern. Nicht minder gut waren die materiellen Bedingungen, denn Noverre's Gage betrug 4000 Gulden, 10 Eimer Wein und 20 Klaftern Holz jährlich; damals eine fürstliche Gage.
Noverre blieb 8 Jahre in Stuttgart und machte es zum Wallfahrtsort des Tanzes. In dieser Zeit vervollständigte er sein theoretisches Lebenswerk, das er in Lyon mit den „Lettres" begonnen hatte, um 11 Bände. Der erste davon heißt „Théorie et Pratique de la Danse"; die anderen 10 bilden eine riesenhafte Chronik, enthaltend die Programme aller in Stuttgart aufgeführten Ballette, die dazu komponierten Musiken von Jommelli, Deller und Rudolf und endlich die Kostümentwürfe von Boquet.
1768 wurde Noverre an die Wiener Hofoper berufen, wo er fast 7 Jahre lang als Souverän des Balletts herrschte und Lehrer der Prinzessin und späteren Königin von Frankreich Marie Antoinette war. 1774 wurde Noverre nach Mailand verpflichtet und von dort nach Neapel.
Keinen Augenblick aber hatte der Weitgereiste sein unverrückbares Ziel aus den Augen verloren, Maître de ballet an der Großen Oper in Paris zu werden. Aber erst der Befehl seiner einstmaligen Schülerin und jetzigen Königin, Marie Antoinette's, vermochte es 1776, einem Sturm von Intrigen zum Trotze dieses Ziel zu verwirklichen.
1782 zog Noverre sich mit 3000 Francs Pension in den Ruhestand zurück. Beim Umsturz durch die französische Revolution wurde sein Ruhegehalt, weil er dem Hause nur 6 Jahre angehört hatte, auf 575 Livres gekürzt; und als Noverre als Lehrer und vertrauter Freund Marie Antoinette's in den Verdacht verräterisch aristokratischer Beziehungen geriet, floh er nach London. Dort trat er zum letzten Mal als Choreograph mit „Adèle de Ponthieu" an die Öffentlichkeit. Die Première fand im Januar 1793 am selben Tage statt, an dem in Paris Ludwig XVI. hingerichtet wurde.
Nachdem die Verhältnisse in Frankreich sich wieder gefestigt hatten, kehrte Noverre nach Paris zurück und starb 82jährig am 19. November 1809 in seinem Häuschen in St. Germain.
In der Geschichte des Tanzes kommt Jean Georges Noverre entscheidende Bedeutung zu. In einen Formalismus, von dessen völliger Erstarrung wir dank Noverre's „Lettres" eine beklemmende Vorstellung haben, griff Noverre mit seiner umwälzenden Erneuerung nicht anders ein als ein Chirurg, indem er rücksichtslos, nicht zuletzt gegen sich selbst und sein berufliches Glück, den wuchernden Ballast an requisitorischem Notbehelf beseitigte, wozu die im letzten Stadium erstarrende Formelsprache des Ballett-Tanzes ihre Zuflucht 'gesucht hatte, und worin das Wesen des Tanzes als lebende und beseelte Sprache zu ersticken drohte.
Ein Auszug aus Noverres „Lettres" mag sowohl das katastrophale Stadium des damaligen Ballett-Formalismus, als auch die Größe von Noverres reformatorischer Idee unmittelbar vor Augen führen.
Was halten Sie, mein Herr, von all den Titeln, mit denen man täglich diese schlechten Tanzvergnügen auszeichnet, die nur der langeweile dienen, und denen stets Kälte und Schwermut auf dem Fuße folgen? Man nennt sie alle Ballett-Pantomimen, obwohl sie im Grunde nichts sagen. Die meisten Tänzer oder Komponisten müßten es eigentlich machen wie die Maler in den Jahrhunderten der Unwissenheit: sie ließen ihren Figuren Spruchbänder aus dem Mund hervortreten, worauf die Handlung, die Situation und der Ausdruck eines jeden verzeichnet waren. Diese nützliche Vorsichtsrnaßnahme, die den Betrachter über die Vorstellung des Malers und deren unvollkommene Ausführung unterrichteten, würden ihm heute die Bedeutung der mechanischen und ziellosen Bewegung unserer Pantomimen erklären. Der geistvolle Dialog der Pas de deux, die angenehmen Betrachtungen der Solo-Auftritte und die triftigen Unterhaltungen der Figuranten und Figurantinnen unserer Tage wären dann bald erklärt. Ein Strauß, eine Harke, eine Drehleier oder eine Gitarre sind so ziemlich der ganze Bestand an Kunstgriffen bei unseren großartigen Balletten, sind das stolze Ergebnis. die den geistigen Bemühungen unserer Komponisten entsprießen. Gestehen Sie, mein Herr, daß man ein ganz außerordentliches, ja hervorragendes Talent haben muß, um sie mit nur einigem Geschick zu handhaben. Ein ungeschicktes Schrittchen auf der Fußspitze dient in diesen Kunstwerken als Exposition. dramatischer Knoten und dessen lösung; das heißt nämlich: willst du mit mir tanzen? - und dann wird getanzt. Das sind die sinnreichen Dramen, mit denen man uns füttert. Das nennt man dann Ballett-Phantasie oder Tanz-Pantomime. Aber lassen wir getrost die Autoren sich damit abrackern. Schwingen sind eben fremder Zierat und nutzloses Gerät für jeden, der das Feuer nicht in sich selbst hat. sondern es sich wie die Glühwürmchen von der Finsternis ausleihen muß.
Fossan, der talentierteste und geistreichste aller Tanzkomiker, hat den Jüngern der Terpsychore den Kopf verdreht; alle haben ihn zu kopieren versucht, sogar ohne ihn gesehen zu haben. Man hat das Schöne dem Trivialen geopfert. man hat das Joch der Prinzipien abgeschüttelt, alle Regeln mißachtet und von sich gewiesen; man hat sich den Sprüngen und Kraftmeiereien ergeben; kurz, man hat aufgehört zu tanzen und sich fiir einen Pantomimen gehalten, als wenn man das würde. wenn man völlig ausdruckslos ist, wenn man nichts darstellt. wenn der Tanz durch grobschlächtige Effekte völlig entstellt ist und sich auf abscheuliche Verrenkungen beschränkt, wenn die Maske widersinng grimmassiert und wenn endlich die Handlung, die von Grazie getragen sein müßte, nichts als eine Kette von Anstrengungen ist, die für den Zuschauer umso unangenehmer sind, als er selber unter der peinlichen und angestrengten Arbeit des Ausübenden leidet. Und doch ist dies. mein Herr. die Gattung. die unser Theater beherrscht.
(aus Brief VII)

Ich habe, mein Herr. immer bedauert, daß Herr Rameau nicht sein Genie dem von Quinault beigesellt hat. Beide schöpfrisch und beide unnachahmlich. wären sie einer für den anderen geschaffen gewesen. Indes das Vorurteil, das Geschwätz der Kenner ohne Kenntnisse, die Flausen der hochtitulierten Ignoranten, die arrogant über alle Künste verfügen, ohne eine Ahnung davon zu haben; das Geschrei oder besser Gekrächze jener hochmögenden Subalternen, die nur den Klugschwätzern nachschwätzen, -denken und -handeln, die auspfeifen und applaudieren, ohne gesehen und gehört zu haben; alle diese Halbgebildeten endlich, die nichts wissen, sich aber von einem Gefolge von Schranzen hofieren lassen; diese giftigen Raupen, die die Künste behelligen und den Geist beschmutzen würden, wenn sie nicht schon an seiner Oberfläche zermalmt würden; und all dies Volk von Schmarotzern und Protektoren, die selber um Protektionen betteln, die das Echo der Snobs und accreditierten Nichtswisser sind und. selber unfähig zu urteilen. sich nicht über wohlfeile Vergleiche hinauswagen und damit so oft große Männer erniedrigen: alles dies hat Herrn Rameau angewidert und ihn bewogen, auf alle großen Pläne zu verzichten, die er haben mochte. Und nun fügen Sie alldem noch die Unannehmlichkeiten hinzu, die jeder Autor durch die Operndirektoren erfährt. Man ist in ihren Augen kriminell, wenn man nicht so altväterlich denkt wie sie. (aus Brief VIII)
Friedrich Schmidtmann

Drei Diener feudalistischen Kunstverstandes
Hatte der jugendliche Herzog Karl Eugen von Württemberg bereits anläßlich seiner häufigen Besuche in Bayreuth, dem Stammsitz seiner späteren Gemahlin Elisabeth Sophie Friederike von Brandenburg-Bayreuth, allen Glanz eines vollständigen italienischen Opernbetriebes genossen, so wurde während einer Reise, die er 1748, zwanzigjährig, nach Paris an den prunkvollen Hof Ludwig des XV. unternahm, vollends in ihm der ehrgeizige Wunsch nach künstlerischer, repräsentativer Prachtentfaltung geweckt. Kluger, angeborener und anerzogener Kunstverstand verlieh ihm beim Aufbau eines rasch wuchernden Musik- und Theaterlebens eine glücklíche Hand. Oft sehr zum Kummer seiner Untertanen folgte nun Fest auf Fest und tauchte die ganze Hofhaltung in einen Taumel feudaler Lebensfreude. Der Ziergesang der italienischen Primadonnen, die anmutigen Schwünge hochbezahlter französischer Tänzer fanden ihre augenfällige Entsprechung in der üppigen Ornamentik der Schloßfassaden, im kunstvollen Linienspiel verschwenderisch angelegter Gärten. Seinem despotischen Eifer stand alsbald ein ganzes Heer ausgesucht fähiger Protagonisten zu Gebote, die die Bühne seiner geschäftigen Willkür nach Kräften bevölkerten.
Mit Niccolo Jommelli, den Karl Eugen auf einer Italienreise „angeworben" hatte, kam 1753 ein Mann an die Spitze der Hofmusik, der nicht nur als Komponist sondern auch als Organisator und Erzieher innerhalb kürzester Zeit das Kunstleben der württembergischen Residenz zu einem weithin gerühmten Anziehungspunkt machte. Ihm stand ein Orchester internationaler Virtuosen zur Verfügung, „eine Welt von Königen" (Schubart). Jommelli war Neapolltaner, ein glühender Verehrer Metastasios, Schüler Durantes, Leos und Francesco Feos. Seine Stuttgarter Bühnenwerke, wohl auch unter dem Eindruck französischer Operneinflüsse stehend, zeichnen sich insgesamt durch eine sorgfältige Beachtung des dramatischen Zusammenhanges aus, insbesondere durch eine freiere Behandlung größerer Szenen, durch sinnvolle Bindung deklamatorischer und arioser Teile, durch gründlichere Charakterzeichnung und schließlich durch eine intensivere Ausarbeitung des Orchestersatzes - nicht in der Konsequenz wie Glucl sie in seinen Reformopern wirksam werden ließ, aber doch erstaunlich programmatisch im Vergleich zur reinen Musikoper der gleichzeitigen italienischen Generation.
„Wer ein gutes Orchester haben will", sagt Jommelli, „der muß ihm etwas zu tun geben und es durch starke Stellen in Arbeit setzen. Eine frostige, oder allzu einfache Begleitung macht die Instrumente faul, denn jeder Musiker, dem man nichts zutraut, spielt schlecht."
Das Zusammentreffen des herzoglichen Geburtstages (11. Februar) mit der Karnevalszeit brachte es mit sich, daß aus diesem Anlaß die Festlichkeiten besonders aufwendig und anhaltend betrieben wurden. So gelangte 1768 im Ludwigsburger Theater das Dramma per musica „Fetonte" in neuer musikalischer Bearbeitung nach einem textlichen Vorwurf des Hofdichters Verazi und im Szenarium des Hofmaiers Giosue Scotti zur ersten Aufführung mit einem unerhörten Aufgebot an dekorativem und bühnentechnischem Raffinement und mehreren mit der Handlung verflochtenen Balletten. Maria Masi-Giura, die Nadwfolgerin der unglücklichen Marianne Pirker, sang die Climene, das Liebespaar Fetonte-Libia wurde verkörpert durch den berühmten Altkastraten Giuseppe Aprile und die schöne Monica Buonani, die dem lebensfrohen Oberkapellmeister nicht ganz gleichgültig gewesen sein muß.
Die Szene der Libia, die unsere Schallplattenaufnahme wiedergibt, schildert die Klage über die bevorstehende Trennung von dem Geliebten. Hermann Abert hebt in seinem Buch über Jomelli als Opernkomponist diese Szene ausdrücklich hervor und weist auf den bei Jomelli erstmalig auftauchenden Versuch hin, das Rezitativ und die folgende Arie in engeren motivischen Zusammenhang zu bringen. Ein glücklicher Einfall ist zudem der mehrfache solistische Einwurf der Bläser, der „einen wirksamen Lichtstrahl in das bis zur Einförmigkeit irübe Bild des Hauptsatzes wirft."
Neben zahlreichen ausländischen Mitgliedern der herzoglichen Kapelle, wie den Violinisten Antonio Lolli und Pietro Nardini, dem Cellisten und späteren Lehrer Zumsteegs Agostino Poli, den Oboe blasenden Brüdern Pià spanischer Abstammung oder dem zu Straßburg geborenen und nochmals in Paris gefeierten Hornvirtuosen und rührigen Ballettkomponisten Johann Joseph Rudolph, wirkten eine ganze Reihe einheimischer, allerdings weit minder bezahlter Instrumentalisten. Zu ihnen darf man auch den Niederösterreicher Johann Florian Deller zählen, der, 1729 geboren und in Wien zum Musiker herangebildet, seit 1751 am Tutti-Pult der Violinen saß. Ein wenig leichtsinniger, trunkfreudiger Natur, war Deller doch ein Erzmusikant, von dem der sehr gleichgerichtete Schubart schwärmt: „...auch die gemeinsten Leute konnten seine Melodien behalten, so glücklich waren sie der Natur abgehorcht", und Noverre hat einmal gestanden, niemals einen besseren Dolmetscher seiner mimischen Erfindungen angetroffen zu haben". (Jean Georges Noverre stand seit dem Jahre 1760 in herzoglichen Diensten.) Obwohl Deller hauptsächlich Jommellis Schüler war, hatte er einen durchaus eigenen Kopf, und neben italienisch-französischen Zügen weisen seine Ballette starke volkstümliche Impulse auf, wie er sie bei Storzer in seinen Wiener Lehrjahren schon empfangen hatte. Er schrieb „langsam, aber mit tiefer Ueberlegung", und man vermag Noverres lobendes Urteil wohl zu bestätigen, wenn man die einfallsreiche und formal großzügige Anlage der Partitur von Dellers Orpheus-Ballett zu Gesicht bekommt.
Das dramatische Ballett „Orfeo ed Euridice" wurde im Jahre 1763 (ebenfalls aus Anlaß der Geburtstagsfeierlichkeiten für den Fürsten) in Ludwigsburg uraufgeführt und zwar als Einlage zu Jomellis „Didone abbandonata". Dieser festliche Theaterabend enthielt zudem neben dem Ballett „Medea und Jason" von Rudolph noch ein weiteres Tanzwerk von Dellers Hand („Der Sieg des Neptun"). Im „Orfeo“ ist die Zusammenarbeit zwischen dem genialen Reformator der Tanzkunst, Noverre, und Deller vielleicht die glücklichste Verbindung eingegangen. Noverres Idee von der tragischen Tanzpantomime mit durchgehender Handlung, von der „danse en action" ist bei dieser vertanzten Orpheus-Sage Wirklichkeit geworden. Die stereotypen Tanzsätze im alten Sinne sind hier ganz den freien programmatischen Szenen gewichen. An ihre Stelle tritt in starkem Maße der „stumme Monolog", die aufs Ballett übertragene dramatische Soloszene der italienischen Oper. Die auf dieser Platte gebotene Auswahl kann nur eine unvollkommene Vorstellung von der choreographischen Konzeption dieses Reformwerks - fünf Jahre vor dem Gluckschen „Orpheus" entstanden - vermitteln.
Mit dem schwindenden Feuer der Jugend verlor Karl Eugen auch mehr und mehr den Geschmack an turbulenten Hoffesten. Und so wurde aus ihm, wie Schubart bissig bemerkt, „...als er aufhören muß Tyrann zu sein, ein Schulmeisterlein." Im Jahre 1770 legte er mit der Errichtung des militärischen Waisenhauses den Grundstein zur späteren Hohen-Karls-Schule. Das geistige Klima dieses Instituts ist durch die Schiller-Forschung allgemein bekannt. Auch Johann Rudolf Zumsteeg. Sohn eines herzoglichen Kammerdieners, verlebte in der strengen Zucht der Karls-Schule seine Jugend- und Studienzeit und vermochte sich sein ganzes Leben nicht dem fordernden Zugriff des Hofes zu entziehen. Erst ganz allmählich konnte er sich aus dem vorwiegend italienischen Einfluß seiner Lehrer lösen und wurde zu jenem richtungweisenden Balladen-Komponisten und zum Haupt der schwäbischen Lieder-Schule, was ihm bis heute historisches Gewicht verleiht. Seine Liederund Balladen jedodı gehören bereits in die Sphäre häuslich-bürgerlichen Musizierens. In die höfische Musikpraxis und sicherlich bei einem vom Herzog selbst streng überwachten Musikabend der Karls-Schüler aufgeführt, verweisen die noch ganz im italienischen Stil gehaltenen Konzerte, die der junge, außerordentlich begabte Cellist Zumsteeg während der Studienzeit für sein Instrument schrieb. Das vorliegende „Concerto per il Violincello" in Es-Dur „di Rodolfo Zumsteeg" ist in einer Partitur-Handschrift (Landes-Bibliothek Stuttgart) ohne Datierung erhalten. Es stellt außerordentliche Anforderungen an die Fertigkeiten des Solisten. Der erste Satz hat bereits sonatenhafte Anlage, geht jedoch in der thematischen Verarbeitung und Orchesterbehandlung (geringfügige Eigenständigkeit der Bratschen) nur wenig über die Errungenschaften der Torelli-Nachfolge hinaus. Der zweite Satz ist ein gesangliches Adagio in sehr starker Anlehnung an die lyrische Opernszene der Zeit, während der letzte Satz einen sprudelnden, rondomäßigen Abschluß bildet. (Man achte auf die inspirierte Einfügung eines „Tempo dl Minuetto" vor der letzten Wiederkehr des Hauptthemas.)
Noverre war bereits 1767 aus württembergischen Diensten geschieden, 1769 erhielt Jomelli seinen Abschied, Deller ging 1771 nach Wien, der Glanz erlosch. Beim Anblick des Ludwigsburger Schlosses und des herrlichen Gartens wird noch einmal ein zeitgenössischer Bericht in Gedanken lebendig, in dem es heißt: „100 000 Glaslampen bildeten nach oben einen prachtvollen Sternenhimmel und warfen ihre Strahlen auf die Blumenbeete, mehr als dreißig Springbrunnen spendeten Kühlung, während Serenissimus auf die gnädigste Höchstdenenselben ganz eigene Art an die anwesende Dames und andere Frauens von Condition reichliche Präsenter" austeilte.
Gerd Berg
(Columbia C 91 114)