MUSIK IN ALTEN STÄDTEN UND RESIDENZEN


1 LP - C 91 102 - (p) 1961
1 LP - 1 C 037-45 570 - (p) 1961

HAMBURG - Die frühe deutsche Oper am Gänsemarkt




Reinhard Keiser (1674-1739)

"Der hochmüthige, gestürtzte und wieder erhabene Croesus" - (1730) 28' 12" A
- Ouvertüre (Sinfonia)

- Chor: "Croesus herrsche"

- Arie des Croesus: "Prangt die allerschönste Blume"

- Bauernszene - Ritornello

- Bauernszene - Tanzlied: "Kleine Vöglein, die ihr springet"

- Bauernszene - Rezitativ: "Seht, wie Herr Elcius ist ein Politicus"

- Bauernszene - Arie mit Chor: "Mein Kätchen ist ein Mädchen"

- Ballett von Bauren und Baurenkindern"

- Duett Orsanes - Eliates: "Ich sä' auf wilde Wellen"

- Arie der Elmira: "Ihr stummen Fische"

- Szene des Croesus: "Götter, übt Barmherzigkeit"

Hermann Prey - Croesus, Bariton | Lisa Otto - Elmira, sopran | Manfred Schmidt - Orsanes, Tenot | Theo Adam - Eliates, Baß


Karl-Ernst Mercker - Elcius, Tenor | Ursula Schirrmacher - Bauerkund, Sopran

Eugen Müller-Dombois, Laute | Heinz Friedrich Hartig, Cembalo


Ein Kinderchor | Die Berliner Philharmoniker | Wilhelm Brückner-Rüggeberg, Dirigent


Johann Mattheson (1681-1764)

"Boris Goudenow" oder Der durch Verschlagenheit erlangte Trohn - Drama per Musica (1710) 10' 14" B1
- Szene mit Chor und Irina: "Hochbeglückte Zeiten"

- Arie des Boris: "Empor! Empor! soll mein steter Wahispruch bleiben"

- Arie des Iwan: "Vorrei scordarmi del Idol mio"

- Chor der alten Männer und Kinder: "Schau Boris uns in Gnaden an"

Theo Adam - Boris, Baß | Manfred Schmidt - Iwan, Tenor | Marlies Siemeling - Irina, Sopran


Eugen Müller-Dombois, Laute | Heinz Friedrich Hartig, Cembalo | Irmgard und Fritz Helmis, Harfen


Günther Arndt-Chor | Die Berliner Philharmoniker | Wilhelm Brückner-Rüggeberg, Dirigent

Georg Philipp Telemann (1681-1767)

"Pimpinone" oder Die Ungleiche Heirat - Ein lustiges Zwischenspiel 5' 10" B2
- Rezitativ und Duett Vespetta - Pimpinone: "Was aber denkt ihr nun zu tun? - Mein Herz, erfreut sich in der Brust!"

Herbert Brauer - Pimpinone, Bariton | Shige Yano - Vespetta, Sopran


Eugen Müller-Dombois, Laute | Heinz Friedrich Hartig, Cembalo | Eberhard Finke, Violoncello

Die Berliner Philharmoniker | Wilhelm Brückner-Rüggeberg, Dirigent

Georg Friedrich Händel (1685-1759)

"Der in Kronen erlangte Glückswechsel" oder Almira, Königin in Kastilien - (1705)
5' 10" B3
- Ballettmusik: Courante · Bourrèe · Menuet · Rigaudon · Rondeau · Chaconne · Saraband


Eugen Müller-Dombois, Laute | Heinz Friedrich Hartig, Cembalo | Irmgard und Fritz Helmis, Harfen

Die Berliner Philharmoniker | Wilhelm Brückner-Rüggeberg, Dirigent







 
Interpreters (see above).

 






Luogo e data di registrazione
-

Registrazione: live / studio
studio

Producer / Engineer
Fritz Ganss / Gerd Berg / Christfried Bickenbach / Horst Lindner

Prima Edizione LP
Columbia - C 91 102 - (1 LP) - durata 48' 46" - (p) 1961 - Analogico

Altre edizioni LP

EMI Electrola - 1 C 037-45 570 - (1 LP) - durata 48' 46" - (p) 1961 - Analogico

Edizioni CD
-

Cover
Hamburg (2. Hälfte 18. Jahrhundert) - Kupferstich von Hoemann. Privatsammlung, Leverkusen












Die frühe deutsche Oper am Gänsemarkt zu Hamburg
Die Hamburger Oper am Gänsemarkt war eine vom Bürgertum getragene Volksoper. Kunstbeflissene Bürger riefen in der Hansestadt die erste selbständige deutsche Oper ins Leben - Jahrzehnte vor Lessings Wirken in Hamburg und seinem Entwurf eines deutschen Nationaltheaters,
Dank der klugen Neutralitätspolitik seiner Stadtväter hatte sich Hamburg aus den Wirren einer Deutschland schwer heimsuchenden Zeit herauszuhalten vermocht. Selbst der Dreißigjährige Krieg, dessen Wogen bis an die Mauern der Stadt brandeten, gefährdete das blühende Wirtschaftsleben des Stadtstaates nicht ernshaft. Ein mächtiges, wohlhabendes Bürgertum wußte sich inmitten des in kleine Feudalstaaten zerrissenen Deutschland eine Sonderexistenz zu bewahrem. Nirgends boten sich günstigere Voraussetzungen für eine betont bürgerliche Kunstpflege. Kein fürstlicher Souverän, sondern der Kaufmann und Ratsherr Gerhard Schott war es, der hier im Jahre 1678 ein Opernunternehmen gründete, dessen Ruhm bald über Hamburgs Grenzen strahlte.
Mit dem Paradiesspiel "Adam und Eva oder der erschaffene, gefallene und wiederaufgerichtete Mensch", zu dem der Heinrich Schütz-Schüler Johann Theile die Musik beisteuerte, wurde das Haus am Gänsemarkt eröffnet. Um dem Argwohn der Geistlichkeit gegenüber der hier und dort als heidnisch verschrieenen Kunstgattung zu begegnen, bevorzugte man in den ersten Jahren biblische Stoffe - "Die Geburt Christi", "Esther" oder "Kain und Abel". Bald jedoch wurden diese Sujets durch historische, mythologische und pastorale Libretti in den Hintergrund gedrängt. Eine für die Hamburger Oper typische Note wahrte man in der Vorliebe für lokal gebundene stoffe, für farbige, satirische Sittenbilder oder fesselnde Begebenheiten aus der Hamburger Geschichte. Das abenteuerliche Schicksal der Seeräuber Störtebecker und Joedge Michaels gestaltete ein Sänger der Hamburger Oper namens Hotter in einem von Reinhard Keiser vertonter Libretto. Typisch für die Volkskunst in Hamburg ist schließlich auch die gegen 1700 aufgeführte Oper "Der Hamburger Jahr-Markt". Das vorwiegend von materiellen Trieben bestimmte Leben der Bewohner des "Kaiser-Hoffs" - einst Hamnurgs größter Gasthof - diente hier dem Librettisten Johann Philipp Praetorius als Zielschelbe einer treffenden Satire. In den aus dem alltöglichen Leben gegriffenen Gestalten des kapitalkräftigen, einfältigen "Gerne-Groß", des gewissenlosen, geldgierigen Hausknechtes Lucas oder der leichtlebigen Wirtstochter Capricciosa hielt der berühmte Librettist de, Hamburger Opernpublikum einen - nichts beschönigenden - Spiegel vor. An den lebendig gezeichneten Lokaltypen und dem oft saftigen Realismus mochten sich die Hamburger Bürger dessenungeachtet immer wieder ergötzt haben.
In der Stoffwahl, aber auch im Aufführungsstil frönte man in der Oper am Gänsemarkt dem Geschmack eines Publikums, das verschiedenste soziale Schichten erfaßte: der nach sensationen gierenden Schaulust. Hinrichtungen auf offener Szene, bei denen Blut aus Schweinsblasen über die Bühne floß, waren freilich auch dem Theater Shakespeares nicht fremd. Einespezifisch volkstümliche Note wahrte die Hamburger Oper in der detaillierten Ausmalung solcher "Hauptund Staatsaktionen" in gleicher Weise wie in der Vorliebe für artistische Vlownerien, recht derbe Possen und zotige Späße. Als beispielsweise im Kahre 1716 Johann David Heinichens Opera seria "Mario" in Hamburg über die Bühne ging, fügte man gänzlich unmotiviert einen "Tanz alter Weiber mit Branntweinflaschen" ein. Eine regelrechte Artistenszene findet sich in Johann Philipp Kriegers Oper "Pyramus und Thisbe".
Die Hamburger Oper am Gänsemarkt war in einer Zeit nationaler Überfremdung deutlich national gerichtet. Offen nahm sie für die bürgerliche Kultur Partei. Scharf geißelte man das Hofleben, so in der Oper "Thalestris" das lächerliche Gebaren eines "galant homme", der kritiklos jede französische Mode nachäfft. Besonders die organisch in die Handlung eingefügte, nirgendwo schablonenhafte "komische Person", die in keiner Oper fehlen durfte, diente wiederholt als Sprachrohr einer nationalen, bürgerlichen Gesinnung.
Die Hamburger Oper am Gänsemarkt bewahrte sich innerhalb der frühdeutschen Oper in mancher Hinsucht eine Sonderstellung. Im Gegensatz zu Opernbetrieben an großen Residenzen und an Duodezfürstenhöfen wurde in der Hansestadt jahrzehntelang durchweg in deutscher Sprache gesungen. In einer stadt, in der sich damals sogar Predigten und Gerichtsverhandlungen des niederdeutschen Dialekts bedienten, bekannte man sich auch in der Oper zum heimatlichen sprachlichen Idiom. anfangs freilich blieb der Dialekt ausschließlich der "komischen Person" vorbehalten. Bald jedoch ging man dazu über, in manche Opern gröére Dialektszenen einzufügen. Zusammen mit den verbreiteten Volksszenen - den farbigen Ausrufer-Szenen, den Auftritten von Soldaten, betrunkenen Bauern, Handwerkern oder Bergleuten - kamen diese Dialektszenen dem Geschmack des vielschichtigen Publikums entgegen. Daß die Bergwerksszene in Georg Philipp Telemanns "Adelheid" einer Venezianischen Oper nachgebildet war, unterstreicht deutlich, welch enge Beziehungen zwischen der Hamburger Oper und der Oper in Venedig bestanden. Ein bezeichnendes Licht fällt dabei auf die Oper am Gänsemarkt: es war eben die jedermann zugängliche, oft volkstümliche Venezianische Oper, zu der sich hier und anderswo mancherlei Fäden knüpfen.
Genau sechs Jahrzehnte lang konnte sich die Hamburger Oper, die anfangs heftig von der Geislichkeit befehdet wirde, am Leben halten. Geldmittel, die finanzkräftige Bürger der Stadt zur Verfügung stellten, ermöglichten eine Ausstattungspracht, die sich durchaus mit dem Aufwand an großen Hofopern messen konnte. Textdichter wie Lucas von Bostel, Christian Postel, Heinrich elmenhorst, Christian Hunold oder Bartholt Feind sorgten für Libretti, die ein bemerkenswertes Niveau aufwiesen. Besondere Beachtung verdient jedoch die Tatsache, daß die junge Oper in Hamburg einige erstrangige Komponisten in die Hansestadt zu ziehen vermochte. Der Schütz-Schüler Johann Theile, der Geigenvirtuose Nicolaus Adam Strungk, der treffliche Liedmeister Johann Wolfgang Franck und der in Hamburg auch als Arzt praktizierende Johann Philipp Förtsch traten in den ersten Jahren hervor. Mit Johann Sigismund Kusser kam dann ein glänzender Organisator und unermüdlicher Orchesterzieher an die Hamburger Bühne. Unlösbar ist das Schicksal der Oper am Gänsemarkt mit der Persönlichkeit Reinhard Keisers verknüpft, des aus Sachsen gebürtigen "Klassiker der frühdeutschen Oper". Zwar stellten auch Georg Philipp Telemann, der vielseitige Mattheson und der junge Händel ihr Können in den Dienst der Hamburger Oper. Reinhard Keiser ist es in erster Linie zu danken, daß die Oper am Gänsemarkt für längere Zeit hohes Ansehen genoß. Den Niedergang des Operninstituts, dessen Leitung ihm einige Jahre anvertraut war, konnte er freilich nicht verhindern. Hellmuth Christian Wolff, der beste Kenner der Geschichte der Hamburger Oper, sieht in der neuen rationalistischen Geisteshaltung, die alles Unnatürliche konsequent ablehnte, die wesentlichste Ursache für diese Entwicklung; ein Chronist des 18. Jahrhunderts gibt dem über handnehmenden Geschäftsgeist der Hamburger die Schuld. Kurzum - im Jahre 1738 mußte die Oper am Gänsemarkt ihre Pforten schliessen. Zwölf Jahre später wurde das Haus auf Abbruch verkauft. In Gastspielen dder Mingottischen Operngesellschaft, im Reithaus nahe am Stadtwall, dominierte fortan auch in Hamburg die italienische Oper.
Hans Christoph Worbs

Komponisten der Oper am Gänsemarkt
Das abenteuerliche Leben des hochbegabten Reinhard Keiser ist aufs engste mit der Geschichte der frühdeutschen Oper vrknüpft. 1674 zu Teuchern bei Weißenfels geboren, ging der ehemalige Leipziger Thomaner im Alter von 18 Jahren nach Braunschweig, wo er neben seinem Gönner Johann Sigismund Kusser seine ersten Opernerfolge errang. Die Hauptstätte seines langjährigen Wirkens wurde die Hamburger Oper am Gänsemarkt. Keiser war auch einige Jahre dänischer Hofkapellmeister und vor seinem Tode im Jahre 1739 Kantor am Hamburger Dom. Noch 1773 rühmte Johann Adolf scheibe den einst mit reichen ehren Bedachten als das "vielleicht größte Originalgenie, das Deutschland jemais hervorgebracht" habe.
Johann Mattheson gilt als eine der fesselndsten Musikerpersönlichkeiten der damaligen Zeit. 1681 in Hamnurg geboren, 1764 daselbst gestorben, machte sich der selsteitle, geschäftige Meister nicht nur als Komponist, als Sänger und Cembalist einen geachteten Namen. Der vielseitig gebildete Musiker, der bereits mit neuen Jahren juristische Vorlesungen hörte, stand als Legationsrat auch jahrelang erfolgreich im diplomatischen Dienst. Uberragende Bedeutung gewann vor allem der Musikschriftsteller Mattheson. Von seinen zahlreichen Publikationen seien sein theoretisches Hauptwerk "Der vollkommene Capellmeister", die erste deutsche musikalische Monatsschrift "Critica musica" und die "Grundlage einer Enrenpforte", eine bedeutsame Sammlung von Musikerbiographien, genannt.
Im Jahre 1681 in Magdeburg geboren, bezog Georg Philipp Telemann wie Händel anfangs zum Studium der Rechte die Universität. Die Berufung zur Musik setzte sich jedoch erfolgreich durch. Leipzig, Sorau, Eisenach und Frankfurt am Main waren die Hauptstätten seines Wirkens, bis er im Jahre 1721, bereits auf der Höhe seines Ruhms, in Hamburg als Musikdirektor der fünf Hauptkirchen eine Lebensstellung fand. Telemann, im Jahre 1767 in Hamburg gestorben, Zeitgenosse Johann Sebastian Bachs, vertritt weit mehr als der Thomaskantor den Typ des modernen, aus seiner beruflichen Isolierung herausstrebenden Künstlers. Als Leiter eines studentischen Collegium musicum in Leipzig, der Frankfurter Konzerte im Frauensteinschen Palais am Römerberg oder der ebenfalls bürgerlichen Konzerte im Hamburger Drilljaussaal drängte es ihn jederzeit in die breite Öffntlichkeit.
Mit 18 Jahren kam Georg Friedrich Händel aus seiner Geburtsstadt Halle nach Hamburg. Schnell stieg er hier vom Orchestergeiger zum Cembalisten und geachteten Komponisten auf. Von seinen vier Opern, die damals über die Bühne der Hamburger Oper gingen, hat sich allein die "Almira" erhalten. Händel, dessen späteres Opernschaffen in Italien und England ungemein fruchtbas war, debütierte mit diesem erfolgreichen Werk im Jahre 1705 als Opernkomponist.
H. C. W.

Aus der Blütezeit der Hamburger Oper
Unter Reinhard Keisers für die Bühne am Gänsmarkt komponierten Opern genoß der "Croesus" besondere Popularität. Zwanzig Jahre nach der ersten Aufführung des Werkes, vier Jahre, nachdem as im Still der Hamburger Lokalsingspiele köstlich parodiert worden war, legte Keiser im Jahre 1730 eine zweite Fassung dieser Oper vor. Die von Lucas von Bostel bearbeitete Geschichte des reichen, hochmütigen Lydierkönigs, der sich, vom Perserkönig Cyrus besiegt, plötzlich der Vegänglichkeit aller irdischen Macht bewußt wird, war in Hamburg "jederzeit mit ungemeinem beyfall aufgeführet worden". Lucas von Bostel hatte sein Libretto an eine italienische Oper Niccolo Minatos angelehnt. Bezeichnenderweise stehen bei ihm die komischen Szenen weit stärker im Vordergrund des Geschehens als bei Minato: auch im "Croesus" wußte der Hamburger Librettist dem Geschmack seiner Landsleute Rechnung zu tragen.
In Trompetenglanz getaucht sind die "italienische" Ouverture und der Einleitungschor der Oper. Die Verwendung des Zuffolo, einer Oktavflöte, läßt Keisers Streben nach klanglicher Vielfalt erkennen. In der idyllisch-genrehaften Bauernszene begegnet uns ein für die Hamburger Oper typisches Volksbild. Gleichwohl hat Hellmuth Christian Wolff nachgewiesen, daß gerade diese reizende Szene fremden Vorlagen verpflichtet ist. Schalmei und Sackpfeife (die Keiser im Orchester durch Oboen, Fagotte, Violoncelli und Kontrabaß nachahmt) hatte schon Minato in seinem "Creso" als instrumentale Begleitung auf der Bühne vorgeschrieben. Das Duett "Kleine Vöglein" erinnert in seiner synkopischen Thythmik an englische Volksmusik. Im Gegensatz zu dem leidenschaftlich bewegten Duett "Ich sä' auf wilde Wellen" ist die von Geigen- und Bratschenklängen umwobene Arie der fischenden Elmira in stimmungsreiche Poesie getaucht. Vielleicht war hier eine Stelle in Lullys "Armide" (1686) Keisers Vorbild. Einen Hähepunkt der Oper gestaltete Keiser in dem ergreifenden Klagegesang des besiegten Lydierkönigs. Croesus' selbstsichere Unberk+mmertheit (musikalisch gespiegelt in seiner Menuett-arie "Prangt die allerschönste Blume") hat sich als eitler Trug erwiesen. Unter Zulauf einer schaulustigen Menge wird der König nun zum Scheiterhaufen geführt. angesichts seines Todes fleht er noch einmal um Barmherzigkeit. Für die bemerkenswert frei geformte Szene "Götter, übt Barmherzigkeit" hat sich Keiser (worauf Heinz Becker in dem Keiser-artikel der Enzyklipädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" hinweist) die in der Oper einzig hier verwandte Tonart es-dur aufgespart.
In dem von ihm selbst verfaßten Textbuch zu dem dreiaktigen "Drama per musica" "Boris Goudenow" schildert Mattheson, wie Boris durch Verschlagenheit auf den Zarenthorn gelangt, wie seine Rechnung, als uneigennütziger Retter des Vaterlandes gefeiert zu werden, wunschgemäß aufgeht. Freilich nur zum Schein erklärt der machthungrige Boris, mit seiner Schwester Irina sein Leben friedvoll im Kloster zu beschließen. Das Volk will den Zarenthron nicht länger verwaist sehen. Eine "Menge alter graubärtiger Männer in schwartz gekleidet" und ein "Haufe junger Kinder in weiss" ziehen vor dem Kloster auf. In einem von kühner Harmonik bestimmten Wechselgesang wenden sie sich mit der inbrünstigen Bitte an Boris, das Land nicht länger im Stich zu lassen (Chor der alten Männer und Kinder "Schau Boris uns in Gnaden an"), Nun sieht Boris den Augenblick für gekommen, das Szepter anzunehmen. Mattheson hat in seine 1710 komponierte, an Chorszenen ungewöhnlich reiche Oper auch eine Anzahl italienischer Arien eingelegt. Wie er im Vorwort seiner Oper schreibt, wollte er hiermit der "Mode" entgegenkommen. Gleichzeitig jedoch gab er auch zu verstehen, daß "die Italienische Sprache der Musique sehr geneigt" sei.
Georg Philipp Telemanns Intermezzo "Die ungleiche Heyrath zwischen Vespetta und Pimpinone", die Geschichte von einem reichen Hagestolz und dessen gewitztem Kammermädchen, erinnert in seinem Sujet an Pergolesis acht Jahre später entstandene "La serva padrona". Auch die treffende musikalische Charakteristik, die Vorliebe für schlagkräftige, sich oft wiederholende Motive verbindet Telemanns Intermezzo mit Pergolesis genialem kleinen Werk. - In dem köstlichen Duett "Mein Herz erfreut sich in der Brust" greift Vespetta immer wieder die musikalischen Motive auf, die vorher Pimpinone übertragen sind. Allem anschein nach geht sie auf die Wünsche des Hagestolzes ein, zeigt dann aber in a parte (beseite) Reden ihr wahres Gesicht.
In dem jungen Georg Friedrich Händel, der im Jahre 1703 nach Hamburg kam, erwuchs Reinhard Keiser bald ein beachtlicher Nebenbuhler. Etwa zwanzigmal ging 1705 seine erste Oper "Almira" über die Bühne. Freilich mochte zu diesem großen Erfolg das dem aufgeklärten Bürgertum Hamburgs durchaus zeitgemäß erscheinende Libretto Friedrich Christian Feustkings beigetragen haben, in dem die verstohlene Liebe der Königin Almira zu dem ihr keineswegs ebenbürtigen Fernando Mittelpunkt der Haundlung ist. Aus der umfangreichen Ballettmusik dieser Oper verdient die Sarabande besondere Beachtung. Einige Jahre später hat Händel die erste Periode dieses Tanzes fast unverändert in seinem "Trionfo del Tempo" und dem berühmten Klagegesang "Lascia ch' io pianga" der Oper "Rinaldo" wieder aufgegriffen.
H. C. W.

Von der "schönen Conradin" und andere Gesangssternen am Hamburger Gänsemarkt
"Ella canta come una tedesca" (sie singt wie eine Deutsche) hieß es noch um 1765 beim Debüt der nachmals gefeierten Primadonna Friedrichs ses Großen, Gertrud Elisabeth Schmelling, der "Mara". Dieser bittere Ausspruch läßt die deutsche Gesangskunst jener Zeit in einem so trüben Lichte erscheinen, daß man sich fragt, wie denn überhaupt ein Unternehmen gleich der deutschen Oper am Gänsemarkt volle sechzig Jahre hindurch (1678 bis 1738) bestehen konnte.
Zunächst mag denn wohl auch in Hamburg recht norddeutsch-temperiert, im schlichten Kantorenstil Oper gesungen worden sein. Aus der reichen Praxis der Kirchenmusik allerdings wuchsen der Bühne Kräfte zu, deren Fähigkeiten nicht zu niedrig eingeschätzt werden dürfen. So ließ sich 1667 Laspar Förster der Jüngere, der weitgereiste Danziger Kapellmeister, in Weckmanns berühmtem Collegium musicum vernehmen, und Mattheson schreibt darüber in der "Ehrenpforte", seine Stimme sei "im Saal wie ein Stiller, angenehmer Sub-Baß zu hören gewesen, außer dem Saal aber als eine Posaune".
Mit dem Auftreten Kussers, der die "Italiänische Sing-Art" einführte, wird das Niveau der Aufführungen merklich angestiegen sein. Auch die "ältesten Sänger mußten wieder Schüler werden" und in regelmäßigen Proben, vom Kapellmeister genauestens instruiert, ihre Partien gründlich studieren. Die wachsenden Ansprüche der Komponisten an die Kehlfertigkeit der Hamburger Sänger lassen sich aus den noch erhaltenen Partituren leicht herauslesen. Daß mit zunehmendem Können jedoch auch die Gagenforderungen der begehrteren Akteure sprunghaft in die Höhe kletterten, ist eine Tatsache, die den Theaterdirektoren von jeher vertraut war und ist. Blanke tausend Taler erhielten schlioßlich die berühmtesten Mitglieder des Ensembles.
Während man sich in der Hansestadt dem triumphalen Ansturm der Kastraten auf die europäischen Opernbühnen lange Zeit erfolgreich zu widersetzen wußte, waren die Falsettisten eine vertraute Erscheinung in den Kirchen und auf der Szene. Der junge Georg Kaspar Schürmann erwarb am Gänsemarkt als Altfalsettist erste Opernerfahrung; besonders gerühmt aber wird die "zärtliche und natürliche Stimme" des englischen Altisten John Abell, der mehrfach in Hamburg gastierte. Mattheson, der bereits neunjährig im "Aeneas" auf der Bühne gestanden hatte, soll nach der Mutation noch Sopranpartien "in der Fistel" gesungen haben. Bis zum Jahre 1705 (die ketzten acht Jahre in tragenden Tenorrollen) war er eine der Hauptstützen der Operntruppe und wurde als Sänger wie als Darsteller gleichermaßen geschätzt. In Händels "Almira" und "Nero" trat er zum letzten Mal singend vor das Hamburger Publikum. Mit einer "wohlklingenden, elastisch-weichen" Tenorstimme begabt, begann auch Johann adolf Hasse seine steile Karriere als Opernsänger in Hamburg.
Im Gegensatz zu den Italienern, die vor allem die hohen Stimmen bevorzugten, wurden in den Hamburger Opern die Bässe mit dankbaren Aufgaben bedacht. Häufig wird der virtuose und "angenehme Bassist" Johann Gottfried Riemschneider erwähnt. Er stammte aus Halle und war ein Jugendfreund Händels, dem er 1729 vorübergehend nach London folgte. Er galt allgemein als besonders sattelfester Konzertsänger, auf der Bühne bewährte er sich im seriösen wie im komischen Fach und wurde 1739 (nach der auflösung der Oper) Kantor an Hamburger Dom. Sechs Jahre lang wirkte neben ihm der spätere Vizekapellmeister in Weißenfels, Gottfried Grünewald, als stimmgewaltiger Bassist. In seiner wohl für Hamburg geschriebenen Oper "Germanicus" sang er selbst die Titelrolle.
Die ungeteilte Sympathie des Hamburger Theaterpublikums galt zweifellos den Komikern, die in mannigfacher, oft lokal-gefärbter Abwandlung der altvertrauten Figur des "Pickelherings" in der Gestalt einfältiger Diener, Boten, Soldaten, als Bucklige und Stotterer ihre derben Späße trieben. Auch die Kupplerinnen und komischen Alten wurden nach venezanischem Vorbild von Männern dargestellt. Ein Monsieur Buchhöfer, des als Bzffotenor und grotesker Tänzer der Hamnurger Truppe ständig angehörte, erfreute sich solcher Beliebtheit, daß eigens seinetwegen eine Croesus-Parodie erschien mit dem Titel:
        Buchhöfer / Der stumme Printz Atis /
        In einem / Intermezzo / Auf dem / Hamburger /
        Schau-Platze / vorgestellet / Im Jahre 1726
        (Musik von Reinhard Keiser)
In den komischen Intermezzi der späteren Jahre, vor allem in denen Telemanns, brillierten "Mad. Monjo die Jüngere" und der bereits erwähnte "Ms. Riemschneider" sowie "die berühmten Acteurs Ms. und Mad. Denner".
Was aber wäre eine Bühne ohne den Liebreiz, ohne die Launen und Slandälchen der Primadonnen. Freilich - den Liebreiz ausgenommen - konnten sich die Hamburger Damen hier wohl kaum mit den Italienerinnen messen, auch mögen ihnen die "Trillerchen und Cadenzen" nicht gar so geschmeidig aus der Kehle gehüpft sein wie etwa einer Faustina Hasse-Bordoni oder der hitzigen Francesca Cuzzoni, die selbst einem Händel zu schaffen machte. Immerhin vermochte zum Beispiel die jugebdliche Barbara Oldenburg durch die "bezaubernde Anmut und Innigkeit wie entzükkende Reinheit des Vortrags" das Herz ihres späteren Gatten Reinhard Keiser nachdrücklich zu rühren, und als die "schöne Demoiselle Conradini" - eine Schülerin Matthesons mit einer exzeptionell umfangreichen sopranstimme - sich 1711 mit dem Grafen Gruzewska vermählte und nach Berlin davonging, da war das "für die Direction ein herber Schlag", und nur Madame Keyser gelang es, ihr Andenken weniger fühlbar zu machen.
Der Vollständigkeit halber sollen noch die Damen Schober und Rischmüller, der Tenor Dreyer und Hotter (der Librettist des "Störtebecker" 1701) erwähnt sein, lauter Namen, deren Nennung nichts von der flüchtigen Kunst ihrer Träger heraufbeschwört - immerwährendes Schicksal aller Komödianten!
Mit dem beginnenden 18. Jahrhundert dürfte auch im Theater am Gänsemarkt der brillante Kunstgesang italienischer Provenienz vorgeherrscht haben. Die Freude an blitzenden Koloraturen und Verzierung aller Art, dieser spielerische Hang zu improvisierter, affekthaft gesteigerter Auszierung der allbeherrschenden Gesangsmelodie, das alles gehört ebenso gut zur hochbarocken Oper wie die perspektivische illusion der tiefen, dreifach hintereinander gestaffelten Kulissenbühne, wie die raffinierten Lichteffekte und der Laterna-magica-Zauber auf den Prospekten, die verblüffenden Verwandlungen und schwebenden Wunder der Flugmaschinen - Illusionswirkungen, wie sie nur der Phantasie eines barocken Künstlers vom Format eines Johann Oswald Harms entspringen konnten. Dazu gehörten aber auch die großflächigen, heftigen, pathetischen aktionen der Darsteller, die wehenden Schleppen und Schleier, die engen Corsagen und weitfallenden Röcke der Damen mit den hochaufgetürmten Frisuren (Fontange), die "römischen Justaucorps" der männlichen Helden und Götter mit wakkenden Federbüschen auf Helmen und Hüten, dazu gehörte schließlich die ganze Menagerie der Tiere, Fabelwesen und Ungeheur, die groteske Erscheinung und die Masken der komischen Personen.
Das Beispiel immer häufiger auftauchender italienischer Gesangsvirtuosen blieb gewiß nicht ohne einfluß auf den Stil der einheimischen Sänger. So wird von dem nachhaltigen Erfolg des Antonio Campioli in der neuen Oper "Die Hamburger Schlachtzeit" berichtet. Campioli war einer der bedeutendsten Altkastraten seiner Zeit und ein ebenso hervorragender, später unter Lotti in Dresden wirkender Lehrer. auch der deutschstämmige Kastrat Cajetan Berenstadt wird auf seiner Reise nach London, wo er unter Händels Leitung im "Flavio", "Ottone" und "Julius Cäser" (1724) sang, in Hamburg Station gemacht haben.
In den zahlreichen volkstümlichen Szenen der Hamburger Oper mit ihrem stark liedhaften Einschlag aber wurde ein Ton angeschlagen, den die Italiener, die der Opernbühne "mitreißen, begeistern, erschütten" wollten, nicht kannten. Eher läßt sich in den lieblichen Airs der Franzosen eine Parallele suchen. Vielleicht lag hier eine der Wurzeln elnes wieder aufblühenden, eigenständigen deutschen Gesangsstils, und es sollte nicht lange mehr währen, daß der Satz "Ella canta come una tedesca" seine Bitterkeit völlig verlor.
Gerd Berg
(Columbia C 91 102)